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#181
vom 28. Februar 2025

Das Atomenergie-Szenarien-Paradox 

von Inka Zimmermann

Liebe Lesende,

Deutschland hat gewählt – und es war keine Klimawahl. Meine Kollegin Kristin hatte vergangene Woche darüber berichtet. Aber lassen Sie uns nach vorn sehen. Eine Sache, die auffällt: Es gibt künftig im Bundestag eine Mehrheit für Parteien, die Atomenergie zumindest nicht so sehr ablehnen, wie es die scheidende Regierung tat.

Ich will an dieser Stelle transparent sein: Als Teenager habe ich Gudrun Pausewangs "Die Wolke" gelesen und das war prägend. Bei Kernkraft habe ich ein mulmiges Gefühl. Aber Angst ist bekanntermaßen kein guter Ratgeber. Außerdem wurde der Jugendroman "Die Wolke" ein Jahr nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl veröffentlicht. Seitdem hat sich die Technologie verändert. Viele Szenarien für eine klimaneutrale Zukunft sehen einen Ausbau der Atomenergie vor – auch die des Weltklimarates IPCC. Und dann gibt es noch einige CDU-Politiker, darunter auch der potenziell neue Bundeskanzler Friedrich Merz, die auf "SMR" setzen: Mini-AKWs, die in Serie produziert werden könnten.

ZAHL DER WOCHE

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… Grad Celsius wurden kürzlich in Rio de Janeiro gemessen. Das ist der heißeste Tag seit einem Jahrzehnt. Am Freitag beginnt der berühmte Karneval in der Stadt, rund sechs Millionen Menschen werden zu den Feiern erwartet. Die gefühlte Temperatur liegt in Brasilien aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit oftmals noch über der gemessenen. Deshalb rief die Stadt die vierte von fünf Hitzewarnstufen aus. "Wir beobachten aufgrund des Klimawandels immer häufiger solche extremen Events", erklärt Karina Lima, Klimaforscherin an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul. Es sei darum wichtig, dass Pläne zur Anpassung an die Klimakrise vorangetrieben würden.
 

🏭 Das AP300

Zwei Handballfelder groß ist die Fläche, die das AP300 einnimmt. Es sieht auf den Modellzeichnungen des Herstellers aus wie ein normales, kleines Fabrikgebäude. Geschwungenes Dach, weiß und Silber gekachelt, moderne Optik. Wenn es nach der Herstellerfirma Westwing geht, soll das AP300 ab 2030 überall stehen, wo sich ein geeignetes Plätzchen findet. Bereits in fünf Jahren will das Unternehmen es in Serie produzieren. Und CO2-neutrale Energie liefern, denn das AP300 ist ein Mini-Atomkraftwerk. Es liefert 300 Megawatt – ungefähr ein Viertel von dem, was ein "großes" AKW leistet.

Das Mini-Atomkraftwerk von der Stange 

Damit gehört das AP300 zu den Small Modular Reactors (SMR): Kleinere Reaktoren, die Atomstrom produzieren und die Debatte um Kernenergie aktuell wieder befeuern. Die USA, Kanada und Großbritannien investieren derzeit in die Entwicklung solcher Anlagen, und auch in der Europäischen Union könnten SMR künftig eine Rolle spielen.

Das wäre eigentlich nur konsequent, denn viele Energie- und Klimaszenarien gehen aktuell von einem starken Ausbau der Atomenergie aus. Immerhin ist Atomstrom mit einem geringen CO2-Impact verbunden und liefert dauerhaft Energie, auch wenn es dunkel und windstill ist. Der Weltklimarat (IPCC) beispielsweise geht davon aus, dass die Stromerzeugung durch Atomenergie von derzeit 3.000 Terawattstunden auf über 7.000 Terawattstunden bis 2050 steigt. Bis 2100 sind sogar 12.000 TWh kalkuliert.

Jim Skea, Co-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe III, sagt dazu, wenn man die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen wolle, sei es "jetzt oder nie". Die Nuclear Energy Agency (NEA) prophezeit: Fünf Gigatonnen Emissionen könnten bis 2050 durch einen Ausbau der Kernenergie eingespart werden. Das wäre mehr, als die gesamte US-Wirtschaft jährlich emittiert. Während in Deutschland der letzte Meiler vom Netz ging, haben andere Staaten das Thema weiterverfolgt. In Kanada bestellt man etwa Mikroreaktoren, die fünf Megawatt Strom produzieren. Die geplanten Atomkraftwerke sind fast alle Leichtwasserreaktoren, das heißt, sie funktionieren ungefähr so wie die großen AKWs. Weil sie aber deutlich kleiner sind, wirken sie vielleicht ein bisschen weniger bedrohlich.

Und das sind sie womöglich auch. Thomas-Walter Tromm ist Experte für nukleare Sicherheit am Karlsruher Institut für Technologie und er schätzt, dass Kernkraftwerke unter 300 Megawatt tatsächlich sicherer sein können. "Selbst, wenn ein Kernschmelzunfall passieren könnte, glaube ich, dass bei Reaktoren in dieser Größe eine Evakuierung der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen ist", betont er. Das liegt daran, dass kleinere Reaktoren sich im Notfall "passiv" abkühlen können. Passiert etwas, sind sie nicht auf Kühlung durch eine strombetriebene Pumpe angewiesen, sondern es reicht das vorhandene Kühlwasser. Ein Unfall mit dem gleichen Verlauf wie in Fukushima wäre nahezu ausgeschlossen. Tromm wirkt im Gespräch sehr sicher, dass das Risiko für einen Austritt radioaktiver Strahlung extrem gering ist, sagt aber auch "physikalisch ausgeschlossen ist nie etwas."

Definiere "Risiko" 

Das Risiko, dass kleinere AKWs beispielsweise im Zuge eines Angriffs zerstört werden, besteht natürlich weiterhin, aber Tromm betont, dass es Möglichkeiten gibt, die Kraftwerke zu schützen, beispielsweise indem man sie unterirdisch baut. Einige Klimaexperten am IPCC würden wohl an dieser Stelle argumentieren, dass man die potenziellen Folgen einer ungebremsten Klimaerwärmung gegen das Risiko eines Atomunglücks aufrechnen muss. Das Risiko Atom haben wir alle seit Tschernobyl und Fukushima gut vor Augen – das Risiko Klimawandel sehen wir jetzt noch nicht auf diese Weise. Überschwemmungen, Dürre und Hitze brohen ebenfalls Menschenleben. Manche Experten argumentieren, dass vor diesem Hintergrund die drohenden Klimafolgen die Risiken der Atomenergie aufwiegen.

Ob man dieses düstere, philosophische Argument nun so gelten lassen will, sei kurz dahingestellt. Denn womöglich entscheidet sich die Debatte um pro oder kontra Atomstrom ganz woanders. Vergleichen wir die Prognosen des IPCC und andere Modelle mit der Praxis, so fällt auf: Die kalkulierten Atomkraftwerke werden aktuell nicht gebaut. Modell und Realität gehen weit auseinander. Man nennt es das "Atomenergie-Szenarien-Paradox".

35 Milliarden für ein AKW

Woran liegt es also, dass einige Experten Kernenergie als praktische Option für klimafreundlichen Strom anführen, aber die neuen Kraftwerke am Ende kaum jemand bauen will? Nun ja, so ein Atomkraftwerk, das kostet – insbesondere dann, wenn es komplett neu gebaut werden soll.

In Polen beispielsweise ist die Bevölkerung mehrheitlich für Atomstrom. Die Regierung plant aktuell sechs neue Reaktoren. Die neueste Anlage wird nach Schätzungen rund 35 Milliarden Euro kosten – nach aktuellem Stand, muss man hinzufügen. Denn der Bau eines Atomkraftwerks dauert lange und die Kosten sind häufig zwei bis drei Mal so hoch wie geplant. "Atomenergie ist mit Abstand die teuerste Art der Stromerzeugung", erklärt Klimaökonomin Claudia Kemfert.

Dass Mini-AKWs daran etwas ändern könnten, bezweifelt Kemfert: "SMRs sind nicht wirtschaftlicher als die großen Reaktoren. Ganz im Gegenteil." In den 1950er Jahren habe man begonnen, größere Atomreaktoren zu bauen, um die Kosten für Atomstrom zu senken. "Wenn wir jetzt wieder kleinere Reaktoren bauen, werden die Kosten nur noch höher sein. Man müsste über zehntausend neue Reaktoren bauen", schätzt die Ökonomin. Dass neue Reaktoren kleinerer Bauart aktuell tatsächlich irgendwo gebaut werden, nehme sie nicht wahr. "Es wird immer sehr viel angekündigt, aber aufgrund der hohen Kosten kaum umgesetzt."

Atomenergie löst das Zeitproblem nicht 

Aber was ist dann mit den Klimamodellen? Immerhin haben die Experten am IPCC den Atomstrom zur Rettung des Klimas fest eingeplant. Kemfert findet, die Modelle ignorieren sowohl die hohen Kosten, die damit einhergehen würden, als auch die geopolitischen Risiken – also was im Falle eines Krieges mit den Atomkraftwerken passieren könnte. Ein Knackpunkt in der Debatte ist außerdem die Zeit: IPCC-Experte Jim Skea sagt, es sei "jetzt oder nie". Bis ein neues Mini-AKW aber tatsächlich gebaut werden könnte, wird es nach Claudia Kemferts Einschätzung noch mindestens zehn Jahre dauern, wenn nicht noch länger. Forschung, Lizenzierung, Bau – all das würde bis dahin noch einmal sehr viel Geld kosten. Auch das eingangs erwähnte AP300 ist – obwohl man es virtuell bereits von innen und außen besichtigen kann – aktuell nur ein digitales Modell. 

Die gute Nachricht zum Schluss: Wir müssen uns womöglich nicht in bedrohlichen philosophischen Dilemmas à la Welches Risiko nehmen wir in Kauf? verlieren. Diverse Studien kommen zu dem Schluss, dass eine Energieversorgung mit Erneuerbaren auch ohne Atomstrom funktioniert. 100% RE nennen viele Studien dieses Modell. Die Einschätzung einer Metastudie von 2019: Teuer – aber machbar. Für die Versorgungssicherheit brauchen wir Atomkraftwerke auch nicht zwingend, wie meine Kollegin Kristin Kielon hier recherchiert hat. 

Noch zwei Studien-Empfehlungen für Neugierige: Das Fraunhofer-Institut für Solarenergie in Freiburg hat die Preise verschiedener Energiearten verglichen. Kernkraft ist hier deutlich teurer als Erneuerbare. Es gibt aber auch eine Studie der ETH Zürich, die Atomstrom durchaus wettbewerbsfähig mit Erneuerbaren sieht. Zumindest in der Schweiz. Allerdings ist auch die Lagerung der radioaktiven Abfälle ein Kostenfaktor, den wir konsequenterweise mitrechnen sollten.

Termine

28. Februar bis 9. März – bundesweit 

Ab heute findet die zweite bundesweite Aktionswoche "Torffrei gärtnern" statt. Hobbygärtnerinnen und Hobbygärtner sollen für den Einsatz torffreier Erde begeistert werden und damit das Klima schützen. Denn jeder eingesparte Kubikmeter Torf schützt Moorböden, einen wertvollen CO2-Speicher. Weitere Informationen hier. 

Samstag, 1. März – Bad Langensalza 

Mitglieder des BUND beginnen um neun Uhr mit dem Aufbau der Amphibienschutzzäune bei Bad Langensalza. Treffpunkt ist das Böhmenhaus, jede helfende Hand ist gerne gesehen. Mehr Infos via kontakt@bund-umweltzentrum.de. Eine bundesweite Übersicht mit allen Informationen dazu, wie Sie Amphibien bei ihrer Wanderung unterstützen können, gibt es hier online beim Nabu. 

Samstag, 1. März – Dresden
Die AG Sächsischer Botaniker hält ihre Frühjahrstagung auf dem Campus Pillnitz der HTW Dresden ab. Es geht um Vegetationsänderung im Klimawandel. Auch Gäste können gegen einen Beitrag teilnehmen, mehr Informationen dazu erfahren Sie hier. 
Mittwoch, 5. März – Hannover und online
Die Tagung "One Health & Klimakrise" adressiert die tiefgreifenden Auswirkungen des Klimawandels auf Gesundheit und Ökosysteme. Hier diskutieren Tiermediziner, Ärzte und Verbraucherschützer. Die Tagung wird von der Universität Vechta organisiert, die Vorträge können auch online verfolgt werden. Weitere Informationen. 

Klima und Menschheit

EU-Klimabeitrat befürwortet CO2-Entnahme
Klimaforscher raten der EU dazu, die Entwicklung der gezielten CO2-Entnahme aus der Luft zu forcieren. In einem neuen Bericht empfiehlt der Europäische Wissenschaftliche Beirat zum Klimawandel, den Einsatz von Methoden der Kohlendioxidentnahme zu beschleunigen und gleichzeitig auf ihr Potenzial aufmerksam zu machen. Neben drastischen Emissionssenkungen sei die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre von entscheidender Bedeutung, um die Erderwärmung zu stoppen, das Klima zu stabilisieren und die schwerwiegendsten Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen.
Atlantische Umwälzströmung stabiler als gedacht  
Die nordatlantische Umwälzzirkulation (Amoc) könnte stabiler sein als bisher angenommen. Eine neue Modellierungsstudie von britischen und amerikanischen Forschern kommt zum Ergebnis, dass der Mechanismus auch bei einem weiteren Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen weiterhin funktioniert, wenn auch möglicherweise deutlich abgeschwächt. Für Europa wäre das in Bezug auf die Gefahren des Klimawandels eine gute Nachricht. 

Mehr bei MDR WISSEN
Der Angriffskrieg in der Ukraine hat 230 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen 
Seit der russischen Invasion in der Ukraine vor rund drei Jahren hat der Krieg einen Klimaschaden produziert, der ungefähr 120 Millionen Autos entspricht. Das zumindest kalkulieren Forschende der Initiative zur Erfassung von Treibhausgasen aus Kriegen. Der größte Anteil der Emissionen geht der Rechnung zufolge auf das Militär zurück, aber auch der Wiederaufbau zerstörter Gebäude und Anlagen sowie Waldbrände sind mit einem hohen CO2-Impact verbunden. Die Publikation finden Sie hier.

ARD, ZDF und DRADIO

Teller statt Tonne

Die NDR Nordreportage begleitet Menschen, die sich gegen Lebensmittelverschwendung engagieren.

Wie kann das Museum klimaneutral werden?

Museen haben aufgrund der nötigen Klimatisierung häufig eine schlechte Klimabilanz. Was sich verbessern ließe, zeigen unsere Kollegen vom Deutschlandfunk.
Deutschlandfunk

Meereschemie 

Mit Hilfe von Gesteinsmehl ließen sich Unmengen CO2 im Meer "entsorgen". Was kann dabei schon schiefgehen, fragt der DLF-Podcast Deep Science den Meereschemiker Will Burt. Die Antwort soll ein Versuch liefern, bei dem sich das Meer verfärbt - und zwar pink.

👋 Zum Schluss

Um dieses komplexe Thema mit einer leichten Story abzuschließen (mit der ich mich nicht gemein mache, sondern sie lediglich wiedergebe). Einige deutsche Comedians haben sich dem Thema AKW-Wiederaufnahme ebenfalls angenommen. So zum Beispiel Marc-Uwe Kling, der die "Söder-Challenge" ins Leben gerufen hat. Gelingt es dem Politiker, einen Betreiber zu finden, der ohne Subventionen ein neues Atomkraftwerk in Deutschland baut, will er ihn mit allerlei Huldigungen überhäufen. Den entsprechenden Auftritt im zdf finden Sie hier.

Haben Sie ein gutes Wochenende 
Inka Zimmermann 

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