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#196
vom 13. Juni 2025

Der Griff des Hockeyschlägers: Eine
kurze Geschichte der Wetteraufzeichnungen

von Clemens Haug

Hallo miteinander,

ich hoffe, Sie haben jetzt am Wochenende keine größeren körperlichen Anstrengungen im Freien geplant. Laut Wetterprognose wird es richtig heiß. Damit Sie die erwartbaren Nachrichten über die Spitzenwerte einordnen können, soll Ihnen dieser Newsletter ein bisschen Hintergrundwissen liefern.

Ist von Rekorden die Rede, fällt häufig der Nebensatz "seit Beginn der Wetteraufzeichnungen". Ich hatte damit ein erdgeschichtlich gesehen eher jüngeres Datum verbunden, nämlich das Jahr 1881, das der Deutsche Wetterdienst häufig als Startpunkt nennt. Deshalb war ich neulich sehr erstaunt, als ich beim Vortrag eines Forschers die sogenannte Baur-Zeitreihe sah. Diese gibt für unser Land Jahresdurchschnitte an, die bis 1750 zurückgehen.

Warum ist das spannend? Weil die Werte zeigen, wie stabil die Temperaturen 200 Jahre um den Durchschnittswert pendelten. Erst seit etwa 70 steigen sie auf einmal schlagartig an. Klimaforscher nennen diese Temperaturkurve oft den "Hockeyschläger": Der Anstieg bildet die Schlagfläche, die stabilen Temperaturen zuvor den Griff. Im öffentlichen Diskurs hat dieser "Hockeyschläger" den Menschen vor Augen geführt, dass die Klimaveränderung nicht natürlich ist. Von denjenigen, die das nicht wahrhaben wollen, wird der "Hockeyschläger" deshalb immer wieder in Frage gestellt. Werfen wir also einen kurzen Blick darauf, was wir über das Klima der Vergangenheit wissen.

MOMENT DER WOCHE

Rot erschien der Mond am Himmel über der Lausitz vergangene Woche. Der Grund war nicht etwa eine Mondfinsternis, sondern Rauch von Waldbränden in Kanada. Er ist in hohe Luftschichten aufgestiegen und um die Erde bis nach Europa gereist. Das zeigen Messungen der Copernicus-Umweltsatelliten und des Leibniz-Instituts für Troposphärenforschung (TROPOS) in Leipzig. Rechte:  Jens_Kaczmarkek_Lausitz_News

250 Jahre Wetterdaten aus Jena: Eine ungekannte Hitze wird kommen

Als die Wissenschaft im Jahr 1770 in Jena mit der Vermessung des Wetters begann, da ging es eigentlich nicht um das Klima auf der Erde – sondern um die Sterne. Lohnt sich an einem Abend das Wachbleiben, weil die Nacht einen sternklaren Himmel verspricht? Oder kann man ruhig zu Bette gehen, weil wahrscheinlich doch die Wolken die Sicht versperren werden? Eine möglichst genaue Messung des Wetters in Kombination mit Erfahrungen ermöglichte kurzfristige Prognosen, etwa für die kommende Nacht.

Angeblich war die Sache mit der Wetterstation eine Idee des berühmten Dichters Goethe. Der hatte zuvor seinen Freund Schiller nach Jena an die Universität geholt. Schillers Gartenhaus steht noch heute neben der Wetterstation, die zum Astrophysikalischen Institut gehört, beide etwa fünf Gehminuten vom Paradies entfernt, dem großen Park am Ufer der Saale. Betrieben wird sie heute vom Deutschen Wetterdienst (DWD), sie ist eine der ältesten Stationen in Deutschland.

Der Hockeyschläger: Seit 100 Jahren wird es wärmer

Kai-Uwe Totsche ist eigentlich kein Meteorologe, sondern Professor für Hydrogeologie. Aber die Wetterstation gehört zu seinem Institut und so bietet er eine kleine Führung an. Eine Frage direkt zu Beginn: Wie zuverlässig sind denn die aufgezeichneten Messungen, die zwischen 1770 und 1881 in Jena gemacht wurden, also vor dem offiziellen Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen? "Die Daten wurden nachkorrigiert, aber die waren schon ziemlich genau", sagt er. Wobei er sich vor allem auf die Temperaturveränderungen bezieht. "Das ist für uns die Größe, die muss möglichst genau und präzise sein." Die Absolutwerte sind ein anderes Thema, das viel stärker davon abhängt, wie das Thermometer skaliert ist und wo genau gemessen wurde. Und da hat sich über die Jahrzehnte viel verändert. Doch mit den Veränderungen, die aus den Aufzeichnungen der Station in Jena sichtbar werden, mit denen könne man wissenschaftlich arbeiten.

Der Meteorologe Franz Baur hat 1975 eine historische Temperaturreihe aus den Mittelwerten von vier der ältesten Stationen Europas erstellt. Die Kurve dieser "Baur-Zeitreihe" beginnt 1761 und schwingt schön gleichmäßig um die x-Achse, also den Temperaturdurchschnitt der Jahre 1761 bis 1970. Bis zum Beginn der 1920er Jahre. Seitdem kennt die Kurve nur noch eine Richtung: nach oben.
Die Baur-Zeitreihe seit 1765. 
Auch Totsche steigt jetzt nach oben, eine enge Treppe zum Dach des Instituts hinauf. Dort steht eine der beiden Kuppeln für die Sternbeobachtung. Davor, recht unscheinbar an einem Geländer, ist eine Halterung mit einer faustgroßen Kristallkugel angebracht. "Ein Heliograph", erklärt der Geologe, "ein ziemlich einfaches und doch geniales Instrument, zur Messung der Sonneneinstrahlung." Die Glaskugel fokussiert das Licht auf eine kleine Leiste. Legt man dort einen Papierstreifen ein, brennt das gebündelte Licht eine Linie in das Papier. Unterbrechungen markieren durchziehende Wolken.

Der Blick in die Kristallkugel

Die so beschriebenen Papierstreifen liefern also historische Daten zur Frage, wann wie viel Energie der Sonne auf dem Erdboden angekommen ist. Heute wird diese Datenreihe mit Pyranometern fortgesetzt, moderneren und sensibleren Sensoren zur Messung der Bestrahlungsstärke. Die Klimaforschung kann also statistisch errechnen, ob die gemessene Lichtstärke die Steigerung der Temperaturwerte erklärt. Und da haben zahllose Studien gezeigt: Nein. Sondern: Der in der Atmosphäre gemessene, durch Industrieabgase stetig ansteigende CO2-Wert, erklärt die beobachtete Temperaturentwicklung viel deutlicher. 
Eher unscheinbar: Ein Heliograph. Kai-Uwe Totsche im Gespräch mit Reporter Clemens Haug. Rechte: Jule Mariebelle Heid/MDR
Kai Uwe Totsche steigt die Treppe nun wieder hinunter und führt um das Gebäude herum, wo die übrigen Instrumente der Wetterstation stehen. Über eine frisch gemähte Wiese geht es zu einer silbernen Dose, die auf einem Ständer in einem Meter Höhe steht. "Das ist der klassische Hellmann-Regenfänger", erklärt er. Am Boden der sauber polierten Dose befindet sich ein kleiner Trichter, darunter ein Auffanggefäß. "Wetterbeobachter würden dann das Gefäß aufschrauben und die Regenmenge auslitern, also in einen kleinen Messbehälter umfüllen." Das moderne Pendant daneben, der Lambrecht-Regenschreiber, ist ganz ähnlich aufgebaut, kann das bei Regen einströmende Wasser aber in Echtzeit messen und die Werte per Datenleitung direkt an die Zentralrechner des DWDs übermitteln.
Messfeld für Bodentemperaturen im Vordergrund, dahinter rechts der klassische Hellmann-Regenfänger und in der Mitte der moderne Lambrecht Regenschreiber. Rechte: Jule Mariebelle Heid/MDR
Dass beide Geräte in diesem Sommer viel messen werden, erscheint derzeit immer unwahrscheinlicher. Je näher der Hochsommer rückt, desto geringer wird die statistische Unsicherheit, was die Vorhersage angeht. "Wenn man die großen Strömungssysteme auf den Ozeanen anschaut, die Temperaturen der Meere hinzunimmt, dann muss man die Prognosen sehr ernst nehmen", sagt Totsche. "Ich gehe davon aus, dass wir einen sehr heißen Sommer bekommen."

Und der Hydrogeologe, der vom Fach her also Experte für das Wasser im Untergrund ist, hat sich vorbereitet: Die Regenzisternen sind gefüllt, einen Vorrat an Löschwasser für Waldbrände hat er sich auch zugelegt.
Die Temperatur ist der Killer Nummer eins!
Prof. Kai Uwe Totsche
Was auf Deutschland zukommt, ist ein Zustand, der in den historischen Wettermessungen bis vor Kurzem nicht vorkam. Dank der regelmäßigen Regenfälle war das Land immer reich an Wasser. "Das gehört der Vergangenheit an", sagt Totsche. Gerade in Jena, der Stadt im engen und tiefen Saaletal, wird die Hitze ein echtes Problem, denn sie staut sich dank der Talkessellage. Zwar bringt der Fluss etwas Abkühlung. Doch auch er führt nach langen Trockenphasen immer häufiger nur noch wenig Wasser. Zugleich werden aber auch die Hochwasserereignisse häufiger. Die Bedingungen werden also extremer. Und das ist besonders für die Bewohner von Jena ein Problem. "Die Temperatur ist der Killer Nummer eins. Der Mensch hält hohe Temperaturen nicht lange aus, insbesondere, wenn er sich nachts nicht abkühlen kann. Und wenn dann gleichzeitig kein Wasser mehr zur Verfügung steht, dann wird es bedrohlich."

Vor vielen Millionen Jahren war es heißer auf der Erde

Klimaforscher können die Bedingungen auf der Erde ganz gut rekonstruieren, um so auch Zeiträume beurteilen zu können, in denen es noch keine Wettermessungen gab. Dafür haben sie unter anderem tiefe Bodenproben analysiert, Bohrkerne aus Gletschern entnommen oder die Jahresringe versteinerter Bäume untersucht. Je länger ein geologischer Zeitraum zurückliegt, desto unsicherer ist zwar das Ergebnis im Detail. Doch grob aufgelöst ist das Bild relativ eindeutig. Es zeigt: Die Menschheit steuert im Blitztempo auf eine Temperatur zu, die es seit 5 Millionen Jahren nicht mehr gab.
Und klar, die Forschung zeigt auch: Die Temperaturen waren auf der Erde schon sehr viel höher. Im Eozän etwa, vor rund 50 Millionen Jahren, waren sie im Schnitt wohl um über 14 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Damals hatte das Leben auf der Erde allerdings viele Millionen Jahre Zeit, sich auf Veränderungen einzustellen (und nebenbei durch den pflanzlichen Stoffwechsel die fossilen Energieträger zu erzeugen, die die Menschheit verbrennt). Heute wird die Menschheit diese Anpassung in wenigen Jahrzehnten hinbekommen müssen. Und sie wird die Emission von CO2 stoppen müssen, denn sonst wird das Überleben an Orten wie Jena bald sehr schwierig.
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DIESE WOCHE IN DER KLIMAZEIT

Warum Rasenmäher im Meer für Klimaschutz wichtig sind, Die UN Ozean-Konferenz und: Korallenriffe in der Klimakrise

Freitags, 19:45 auf tagesschau24 und jederzeit auf  tagesschau.de

Termine

  • 16.6. — Nutzerworkshop des Deutschen Wetterdienstes zu Klimavorhersagen und Klimaprojektionen 2025 (Online)
  • 18.6. — Atmosphäre reparieren? Geo-Engineering als Science-Fiction, Veranstaltung im Deutschen Hygienemuseum. (Dresden)
  • Bis 22.6. — Sonderausstellung "Flutwohnung" (Klima-Arena Sinsheim)
📆 Und noch mehr Klima-Termine finden Sie jederzeit hier.

News

Nordsee und deutsche Ostsee so heiß wie nie zuvor 
Die Wassertemperaturen in Nord- und Ostsee waren in den vergangenen Monaten seit März ungewöhnlich hoch. Das meldet das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Demnach war die gesamte Nordsee im Frühjahr so warm wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch in der deutschen Ostsee wurden Rekordtemperaturen gemessen. Das hat Folgen für Tiere und Pflanzen im Meer: Tiere sterben ab und es kommt zu mehr sogenannten Todeszonen im Meer. Über die Umweltprobleme der Ozeane beriet in dieser Woche auch die UN-Ozeankonferenz.
(NDR.DE)
Haben die jüngsten Regenfälle die Dürre gelindert?

Die jüngsten Niederschläge haben Natur und Landwirtschaft dringend benötigte Wasserzufuhr verschafft. Aber reicht das? Der Deutsche Wetterdienst (DWD) spricht von einer Verschnaufpause. Auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig bestätigt, dass durch die Niederschläge der vergangenen zwei Wochen für Pflanzen im Oberboden an vielen Orten Deutschlands mehr Wasser verfügbar ist – auch wenn im Mai insgesamt trotzdem weniger Niederschlag als normal zu verzeichnen gewesen ist. Niedrigere Temperaturen hätten außerdem zu geringerer Verdunstung geführt. Beide Effekte sorgten für eine Entspannung der Situation in der Landwirtschaft. (MDR WISSEN)

OECD: Klimaschutz macht sich für die Wirtschaft bezahlt
Mehrinvestitionen für den Klimaschutz stärken laut einer Studie langfristig auch die Wirtschaft. Eine am Mittwoch in Berlin vorgestellte Berechnung von OECD und UN-Entwicklungsprogramm UNDP geht davon aus, dass umfassendere Maßnahmen und Investitionen in den Klimaschutz bis 2050 für ein um drei Prozent höheres weltweites Bruttoinlandsprodukt sorgen würden, als es nach bisherigem Stand zu erwarten sei. Die Studie unterstreiche die Rolle verlässlicher klimapolitischer Rahmenbedingungen, hieß es. So könnten auf der anderen Seite Unsicherheiten und eine unklare Politik in diesem Bereich das globale Bruttoinlandsprodukt bis 2030 sogar um 0,75 Prozent reduzieren. (Deutschlandfunk)

ARD, ZDF und DRadio

Windenergie aus dem Schrebergarten?

Zu Besuch bei privaten Tüftlern, die mit Solar-, Wind- oder Bioenergie eigene Lösungen entwickeln 👉 ARD Mediathek

Abschied vom Wintersport

Welche Zukunft haben Natur und Tourismus in den Alpen, wenn der Schnee verschwindet und die Wildnis in die Berge zurückkehrt? 👉 ZDF

TGV: Alle Gleise führen nach Paris?

Frankreichs TGV ist pünktlicher und beliebter als der ICE, dafür hat die Bahn im Nachbarland ein anderes Problem 👉 DLF

👋 Zum Schluss

Heute sind die alten Wetteraufzeichnungen interessant für die Klimaforschung. Aber das Erdklima zu verstehen, war meistens gar nicht der Grund, warum Staaten in die Wetterforschung eingestiegen sind. Vor meiner Recherche dachte ich ja, dass vor allem die Landwirtschaft ein zentraler Treiber war. Aber Kai-Uwe Totsche hat mir erzählt, dass die Landwirte dafür die Bauernkalender hatten, mit denen sich sehr zuverlässig die wichtigen Termine für Aussaat und Ernte bestimmen ließen.

Für Staaten entscheidender waren wahrscheinlich Erfahrungen aus dem Krieg. Denn das Wetter hat so manche Schlacht wesentlich beeinflusst. So haben wohl die heftigen Stürme im August 1588 die Reste der spanischen Armada vernichtet. Anschließend übernahm Großbritannien die Vorherrschaft auf den Weltmeeren. Und im Juni 1815 trug das heftige Regenwetter im Vorfeld der Schlacht von Waterloo zu Napoleons Niederlage bei. Die aufgeweichten Böden verhinderten, dass er seine Kanonen so einsetzen konnte, wie er es gewohnt war.

In der Ukraine fürchten Soldaten klare, sonnige Tage, denn sie bedeuten, dass beide Seiten mit Drohnen Jagd aufeinander machen. Mehr Regen und kühlere Temperaturen wären also nicht nur für die Landwirtschaft und die Natur wohltuend, sie würden auch in den modernen Kriegen Leben retten.

Viele Grüße
Clemens Haug

Noch Fragen? Oder Feedback?

Das ARD Klima‑Update ist ein Produkt des ARD‑Kompetenzcenters Klima unter Verantwortung des Mitteldeutschen Rundfunks.

👉 mdr.de/klima


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