Darstellungsprobleme? Im Browser ist's netter.
#165
vom 1. November 2024

Erneuerbare Müllberge statt endloser Elektro-Klumpatsch

von Florian Zinner
Hallöchen.

Die gute Sache mit der Prophylaxe ist ja die, dass sich ein unangenehmer Umstand verhindern lässt, bevor er eintritt, wenn man nur rechtzeitig den Hintern hochkriegt. Und bei Hintern fällt mir ein: Ich habe mir jetzt angewöhnt, eine neue Packung Klopapier immer so in etwa zwei Rollen vorm Vorratsende anzuschaffen. Das schützt erfahrungsgemäß vor bösen Überraschungen und ist sehr zu empfehlen.

Im Grunde könnten wir die Sache mit der Vorsorge an der gesamten Klimakrise durchdeklinieren, aber lassen wir das und kommen zu etwas Erfreulichem: Denn manchmal lässt es sich durchaus gelassener einer Herausforderung entgegenblicken, wenn man weiß, dass die Lösungen schon parat stehen, weil da offenbar jemand Freude an der Prophylaxe hat.

Dass die Energiewende neue Herausforderungen in Sachen Entsorgung mit sich bringt, dringt so langsam durch. Bevor uns die Berge an Sondermüll aber die friedliche Energiezukunft verhunzen, tüfteln Menschen bereits jetzt an einem effektiven Recycling von Windrädern und Solarpaneelen – oder haben schon weitestgehend zu Ende getüftelt, wie ich Ihnen bei der heutigen Exkursion ins Zentrum von Sachsen-Anhalt gern zeigen möchte.

ZAHL DER WOCHE

1

… Prozent Rückgang im Pkw-Verkehr erwartet die Verkehrsprognose 2040 – und das trotz steigender Verkehrszahlen. Trotzdem bleibt der Schätzung zufolge das Auto mit einem Anteil von fast 69 Prozent am Individualverkehr auch in 15 Jahren das wichtigste Verkehrsmittel, schreibt die Taz. Das größte Wachstum wird mit sechzig Prozent bei der Bahn erwartet, der Fahrradverkehr soll um 32 Prozent wachsen, der Busverkehr um 24 Prozent. Und der Luftverkehr? Fast 31 Prozent.

Solar-Recycling: Marktreif, bevor es Problemchen gibt

Nun ausgerechnet Rotorblätter stapeln sich vor der ausladend großen Halle im ein klein wenig abgelegenen Magdeburger Industriehafen. Und das, wo Windkraft heute ausnahmsweise mal nicht das Thema ist, sondern die nahe Verwandtschaft unter den Erneuerbaren. Ein großes Fragezeichen später stellt sich heraus: Rotorblätter für die Windenergie werden hier an der Elbe schon seit Jahren keine mehr produziert. Die Halle füllen jetzt Solarpaneele, fertig montiert und auch fertig im Zustand: „Der Ansatz, den wir verfolgt haben, ist eine Art Reverse Production aufzubauen.“ Was Fridolin Franke da meint, ist eine Rückproduktion von Photovoltaikmodulen. „Das heißt, dass wir den Produktionsprozess umdrehen und dadurch nacheinander die einzelnen Bestandteile von einem Solarmodul trennen und dann auch die verschiedenen Rohstoffe wieder zurückgewinnen können.“
Junger Mann neben zwischen gestapelten ausrangierten Solar-Paneelen in einer Halle
Fridolin Franke neben Müll Rohstoffen
Das ist dann eigentlich auch schon die grundlegende Idee, die hinter Solar Materials steht. Franke und zwei Kollegen, die er noch von der Uni kennt, haben das Start-Up vor drei Jahren an den Start gebracht. Nach dem Firmen- und Forschungssitz wird jetzt der nächste Standort aufbaut, eben dort, wo früher Rotorblätter hergestellt wurden. Die Halle, in der der Gründer an diesem Montagmorgen steht, ist noch weitestgehend leer. Aber zwei Maschinen sind schon startklar und unter anderem dafür zuständig, die Paneele von ihrem Alurahmen zu trennen. Außerdem stapeln sich schon die ersten in Rente geschickten Module. Und zeigen: Nicht nur der Aufbau von Solaranlagen ist ein Zukunftsmarkt, sondern auch deren Rückbau.

Bislang waren es deutschlandweit zehntausend Tonnen im Jahr, die außer Dienst gestellt wurden – für die kommenden Jahre rechnen Fachleute mit hunderttausenden jährlich. „Das ist bereits jetzt der am schnellsten wachsende Elektroschrottstrom“, sagt Franke. Vor zwei Jahren wären die potenziellen Investoren seiner Firma noch skeptisch gewesen, ob der Markt fürs PV-Recycling überhaupt schon da ist. „Wenn wir uns jetzt anschauen, wie viele Module wir schon haben, dann stellt uns keiner mehr die Frage.“ Bei Solar Materials ist es inzwischen ein Wettlauf, für die wachsenden Mengen an PV-Schrott genügend Kapazitäten aufbauen zu können.
Einzelnes Solar-Paneel mit Erklärtafel neben vielen weiteren aufgereihten Paneelen
PV-Modul aus Recycling-Materialien

Nach zwanzig Jahren kaputte Solarmodule: Ja ist das denn normal?

Nur, wo es doch – im energiehistorischen Kontext wohlgemerkt – mit dem Sonnenstrom gerade erst so richtig losgegangen ist, darf man sich fragen, warum wir uns jetzt schon wieder um den Rückbau kümmern dürfen. Und am besten fragen wir uns das dort, wo ein großes PV-Modul aus recycelten Materialien neben dem Gebäude steht – gute hundert Kilometer südlich, am Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik auf dem Halleschen Weinberg Campus. „Also zwanzig Jahre sind eigentlich für so ein technisches Gerät ein ziemlich langer Zeitraum.“ Diesen Rüttler gibt es von Andreas Obst, der sich als Chemiker hier mit dem Recycling ausgedienter Solarmodule beschäftigt. „Wenn Sie sich mal anschauen, wie lange Sie beispielsweise Ihr Telefon benutzen, da kommen Sie mit zwanzig Jahren nicht hin.“

Erwischt. Manche Paneele schaffen es sogar auf dreißig Jahre. (Und vor dreißig Jahren begann Nokia gerade erst damit, sein Renommee als Handyweltmarktführer aufzubauen.) Diese tatsächlich hohe Lebensdauer hängt mit der aufwendigen Bauweise zusammen, die so ein Modul zu einem ziemlichen – nun ja – Klumpatsch macht. „Also wir haben zum einen die Solarzellen, die sind eingekapselt in einer Polymerfolie, haben da noch eine Glasschicht oben drauf und die werden von einem Aluminiumrahmen gehalten.“ Neben Alu und Glas stecken besonders in der Solarzelle wertvolle Rohstoffe, allen voran Silizium und Silber. Und ein Silberkettchen würde ja nun auch niemand freiwillig entsorgen.
Für die Rückgewinnung gibt es verschiedene Möglichkeiten, erklärt Obst, thermische, chemische, mechanische. Gängig ist es, die außer Dienst gestellten Paneele zu schreddern und anschließend die einzelnen Rohstoffe im Granulat zu trennen. Nur funktioniert das eben nicht zu hundert Prozent genau, hier seien Kompromisse zulasten der Reinheit notwendig. Solar Materials aus Magdeburg dreht den Spieß einfach um: Man spare sich die Sorgen beim Sortieren, indem man sich eben am Anfang direkt Mühe gebe, um es mal mit Fridolin Frankes Worten zu sagen. Ein Ansatz, dem der Chemiker Andreas Obst viel abgewinnen kann: „Er zielt ja vor allen Dingen darauf ab, zum einen, sehr hochwertiges Glas zurückzugewinnen, ohne starke Verunreinigung durch Metall und Silizium. Und zum anderen, was die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens eben sehr stark nach vorn bringt, die Rückgewinnung von Silber.“

Im Jahr 2023 gehe fast ein Fünftel der Weltsilberproduktion auf die Solarindustrie zurück, erklärt Obst, „und es gibt aktuell weltweit noch keinen Recyclingprozess im industriellen Maßstab, der das Silber zurückgewinnt.“ Gleichzeitig gehe der Silberpreis stark nach oben und es ist nicht abzusehen, dass die Branche ihren Verbrauch zurückfährt, schon alleine, weil es in Sachen Haltbarkeit und elektrischer Leitfähigkeit in den Paneelen eine bessere Figur als Kupfer macht.
Weitläufige Halle mit Regalen, in denen sich einige Solar-Paneele stapeln
Ruhe vor dem Sturm bei Solar Materials
Nun ist ja jedes Modulmodell ein bisschen anders gebaut. Um besser abschätzen zu können, wie viel Silber in den ausgedienten Platten aufs Recycling wartet, haben Andreas Obst und sein Team den Magdeburgern unter die Arme gegriffen. Am Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, zu dem auch das Center in Halle gehört, atmet man seit Jahrzehnten Photovoltaikluft, demnach liegt dort auch ein gehöriger Wissensschatz über die Zusammensetzung verschiedener Solarpaneele. Mittels einer automatisierten Datenerfassung und einer Datenbank mit hunderten Proben, kann Solar Materials effizienter sehen, wie groß die Glasdicke oder wie hoch der Silber- und Schadstoffgehalt in einem Modul ist, so Obst. Das funktioniere „über den Barcode, der auf den Modulen am Typenschild vorhanden ist und mit dem dann eben die Maschine entsprechend auf den optimalen Parametersatz eingestellt wird, um dieses Modul zu verarbeiten.“ Das freut auch die Lieferanten, die dann je nach enthaltendem Silber angemessen vergütet werden können. Oder: „Wenn diese Module sehr wenig Wertstoffe, aber viele Schadstoffe enthalten, das eben dem Anlieferer entsprechend in der Belastung aufzuerlegen.“

Von wegen Müll

Vor ein paar Jahren saß Fridolin Franke noch an der Marktanalyse, inzwischen steht er am künftigen Dreh- und Angelpunkt seines Unternehmens. Beziehungsweise so ziemlich genau in der Mitte der großen Halle am Industriehafen, in die sich in den nächsten Monaten noch weitere Maschinen der Marke Eigenbau und auch Roboter gesellen werden. Zwanzig Prozessstationen soll sie enthalten, die erste industrielle Recyclinglinie des Unternehmens. Für das nächste Jahr ist dann die nächste Linie im Hallenschiff nebenan geplant. 20.000 bis 25.000 Tonnen pro Jahr, das ist die Ziellinie ab 2026.

Wenn der junge Unternehmer das mit seiner sachlichen Art so sagt, kommt man nicht auf die Idee, dass es an diesem Plan etwas zu rütteln gibt. Man glaubt es ihm eben einfach. Nur ganz kurz wird Franke dann doch noch ein kleines bisschen emotionaler: „Ich glaube, es müssen einfach noch viel mehr Menschen begreifen, dass in den Produkten, die wir haben, Rohstoffe drin sind und das als Rohstoffquelle begreifen und nicht als Müll.“ Eine entscheidende Einstellung, nicht nur für die Umwelt, sondern für Deutschland und Europa, wie er sagt. „Um unsere Abhängigkeit von anderen Regionen in der Welt zu reduzieren und weil es einfach verschenktes Potenzial ist, wenn wir nicht recyceln.“ Und Potenzial wirft man eben genauso wenig auf den Müll wie Silber.

Termine

Sonnabend, 2. November – Halle
Im Rahmen des Silbersalz-Festivals geht es unter dem Titel „Neues Europäisches Bauhaus – Bauwende in Mitteldeutschland: Aufbau statt Abriss” auf Exkursion zu Lehmhäusern in Halle. 11 und 14 Uhr, Infos hier
Mittwoch, 6. November – Zittau
Die Hochschule Zittau/Görlitz lädt zum Tag der Umwelt unter der Überschrift „Zu nass, zu trocken – was nun?“. Ab 14 Uhr
Mittwoch, 6. November – Leipzig und online
In eigener Sache: In einer Gesprächsrunde der Uni Leipzig und des ARD-Kompetenzcenter Klima geht’s im Vorfeld der UN-Klimakonferenz um Klimaberichterstattung und darum, wie Klimawandel und ökologische Vielfalt zusammenhängen. Im Paulinum am Augustusplatz, ab 19:30 Uhr, Eintritt frei, Anmeldung hier. Livestream gibt's bei MDR WISSEN.
11. bis vsl. 24. November – Baku
UN-Klimakonferenz (COP 29)
Dienstag, 19. November – Halle und online
In den SaltLabs diskutiert ein Panel aus Politik und Gesellschaft im Rahmen der Reihe „Zukunft. Klima. Demokratie“ über soziale Gerechtigkeit beim Klimaschutz. Ab 17 Uhr in den SaltLabs, Anmeldung hier

Klima und Menschheit

Keine Trendwende bei CO2-Konzentration in Sicht
Seit Beginn der Menschengeschichte ist die Konzentration der klimaschädlichen Gase noch nie so schnell so stark gestiegen wie in den vergangenen 20 Jahren. Das berichtet die Weltwetterorganisation (WMO) in Genf in ihrem aktuellen Treibhausgas-Bulletin. Der CO2-Anstieg betrug demnach seit 2004 etwa 11,4 Prozent – und 2023 lag der Anstieg höher als im Jahr davor. Neben dem menschengemachten CO2-Ausstoß waren dafür auch Wald- und Buschbrände verantwortlich, heißt es. Gleichzeitig deutet sich an, dass die Wälder weltweit weniger CO2 aufnehmen. Die Bundeswaldinventur hat das für Deutschland bereits bestätigt: Hier ist der Wald von der CO2-Senke zur Quelle geworden. Hintergründe bei MDR WISSEN
Gesundheit ist zunehmend durch Klimawandel beeinträchtigt
Zu dem Schluss kommt eine internationale Studie im medizinischen Fachjournal The Lancet. So sei etwa die Zahl aufgrund hoher Temperaturen verlorener Schlafstunden vom Zeitraum 1986 bis 2005 bis zum Zeitraum 2019 bis 2023 um fünf Prozent gestiegen. Schlafmangel kann kurzfristig zu Konzentrations- und Gedächtnisproblemen führen, chronischer Schlafmangel das Risiko unter anderem für Diabetes, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Dürren und Hitzewellen haben dem Report zufolge dazu geführt, dass im Jahr 2022 in 124 untersuchten Ländern 151 Millionen Menschen mehr von mäßiger oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen waren als im Zeitraum von 1981 bis 2010. Zudem stieg das Infektionsrisiko durch Denguefieber, Malaria, West-Nil-Fieber und Vibrionen. 
Europa: Mehr als die Hälfte der Hitzetoten im Sommer 2022 auf Klimawandel zurückzuführen
Die Untersuchung des Barcelona Institute for Global Health (ISGlobal) baut auf bereits bestehenden Studien zum ungewöhnlich heißen Sommer 2022 in Europa auf. Diese hatten die Zahl von 68.593 Todesfällen für den Kontinent ergeben, die direkt auf die hohen Temperaturen zurückzuführen waren. Die neue Studie hat nun ergeben: 38.154 dieser Fälle, beziehungsweise 56 Prozent wären ohne den menschengemachten Klimawandel nicht passiert. Die Zahl der Frauen und der Menschen über achtzig Jahre waren zudem in dieser Gruppe überproportional vertreten. Die Fachleute haben Aufzeichnungen zu Temperaturen und Todesfällen in 35 europäischen Ländern aus dem Jahr 2022 analysiert und mit Daten zu globalen Temperaturanomalien kombiniert. Mithilfe weiterer Modelle kalkulierten die Forschenden die lokalen Temperaturen, wie sie ohne die globale Erwärmung aufgetreten wären und konnten so schließlich die Zahl der Hitzetoten bestimmen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind.

ARD, ZDF und DRADIO

Was die Wahl von Trump oder Harris fürs Klima bedeutet

Eine existenzielle Bedrohung nennt Kamala Harris den Klimawandel; Donald Trump sieht ihn als Schwindel an. Was würden sie bei einer Wahl jeweils tun?

VW in der Krise

Kemferts Klima-Podcast: Der Konzern hat laut Claudia Kemfert viel zu spät auf Elektroautos gesetzt. Die Wirtschaft lahmt insgesamt. Außerdem: Die UN-Artenschutzkonferenz in Kolumbien.

Betonwüsten. Wenn kein Gras mehr drüber wächst?

Die verheerenden Folgen der Bodenversiegelung – dieses eigenartig anmutenden Wortes – kann man jedes Jahr anhand sogenannter "Naturkatastrophen" deutlicher sehen.

Die beste Heizung aus finanzieller und ökologischer Sicht

… über einen Zeitraum von zwanzig Jahren für ein Einfamilienhaus hat eine Forschungsgruppe errechnet. Hier gibt's die Ergebnisse im Detail.

👋 Zum Schluss

Jetzt, wo Sie wissen, dass es mit der Kreislaufwirtschaft bei Photovoltaik-Modulen vielleicht nicht mehr so lange hin ist, dürfen Sie sich gern an dieser Errungenschaft des Fortschritts erfreuen, auch wenn die Saison gerade erst rum ist: Ein Hersteller für Balkonkraftwerke hat jetzt ein … nun ja, Kopfkraftwerk auf dem deutschen Markt landen lassen. Für hundert Euro können Sie beim Flanieren in den Ferien Ihr Handy mit echtem Ökostrom laden und sehen dabei auch noch unfassbar gut aus. Die wichtigsten Eckdaten hat ifun zusammengetragen. Und wer weiß, vielleicht ergattern Sie ja ein günstiges Exemplar für die nächsten Sommerferien demnächst im Winterschlussverkauf. Wir freuen uns an dieser Stelle über ein Selfie.

Passen Sie auf sich auf die Welt auf.

Herzlich
Florian Zinner

Noch Fragen? Oder Feedback?


Logo des MDR
Kontakt  Impressum   Datenschutz  Abmelden