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#161
vom 3. Oktober 2024

Biber, Böden, Blümchensex:
Es bleibt bedenklich. 

von Florian Zinner
Ach wissen Sie,

wir haben’s ja auch nicht leicht. Ein Newsletter mit zeitgenössischen Rezeptvorschlägen für die Fünf-Minuten-Küche wäre für Sie und uns mit Sicherheit leichter zu verdauen – im wahrsten Sinne des Wortes snackable, wie man es als moderner Mensch auszudrücken versteht. Stattdessen stürzen wir uns jede Woche in die Krise. Also, wenn’s denn nur eine wäre, heutzutage.

Wie gelegen käme es da, zur Abwechslung mal eine Krise weniger zu haben. Und deshalb mein Vorschlag zur Güte: Wir machen zumindest aus Klimakrise und Biodiversitätskrise fortan eine Universalkrise. Damit haben wir zwar keine einzige Sorge weniger, aber sind wenigstens einmal dieses miesepetrige Wörtchen los. Denn, so zeigt es die Forschung: Der Klimawandel und der Rückgang der Artenvielfalt gehören zusammen wie Ernie und Bert, Bahn und Betriebsstörung, MDR und Volksmusik.

Sie bedingen einander auf minutiös austarierte Art und Weise. Zugegeben, in dem seit dieser Woche vorliegenden Bericht zur Artenvielfalt in Deutschland ist der Klimawandel nur eine Notiz von vielen. Drum lesen Sie den Newsletter mit einem weisen Blick auf die Dinge: Geht’s den Arten schlecht, geht’s auch dem Klima schlecht. Und eben andersrum.

ZAHL DER WOCHE

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… Prozent an Volumen haben Schweizer Gletscher im vergangenen Jahren verloren. Das führt nun zu eher kuriosen Klimafolgen: Die Schweiz-italienische Grenzlinie, die sich vor allem an Wasserscheiden und Gratlinien der Gletscher orientiert, muss jetzt angepasst werden. Die Änderung betrifft in der Regel abgelegene Gebiete, kann aber eine Rolle bei der Pflege von Naturschutzgebieten spielen oder, wie vor einigen Jahren, bei der Bewirtschaftung einer Hütte. Seit 2023 gibt es ein Abkommen zur Grenzbereinigung zwischen den Ländern.

Bestandsaufnahme im Land von Biber und Filzkraut

Da hat sie Helge Bruelheide also ertappt, die Damen und Herren Medienschaffenden. „Das ist ein Problem, was Journalisten häufig haben, dass sie dann sagen: Ja, wir haben so ein Kuscheltier und da schreiben wir jetzt drüber. Aber dann den Sprung zu machen, dass es da noch viel mehr gibt, da liegt die Schwierigkeit.“ Bruelheide, Geobotaniker an der Uni Halle-Wittenberg, hat es erfasst. Ohne Kuscheltier geht es nicht. Deshalb verweist er dankenswerterweise auf den Biber, mit seinen putzigen Schneidezähnchen und dem dicken flachen Schwanz. Immerhin ist der Biber niedlich genug, dass er Wappentier-Potenzial hat. Zumindest für Baumärkte.

Aber eben auch für den Artenschutz: Biber sind nicht die, die unsere Wälder kaputt knabbern. Sondern letztendlich die, die sie erhalten, wenn man sie einfach machen lässt. Sie verlangsamen Überschwemmungen, bilden Barrieren für Waldbrände und bewahren Flüsse vorm Austrocknen. Als natürliche Klimaanpassungsstrategie. Es steht außer Frage, dass der Biber ein prototypisches und eben niedliches Zahnrad im hiesigen Ökosystemgetriebe ist. Und damit schützenswert. Er ist zurück in Deutschland, mit Recht.

Natürliches Gleichgewicht: Der Biber macht das gratis

Und obgleich die unentgeltlichen Biber-Dienste einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten, dass wir ein gutes Leben haben, wäre eine Welt, in der es neben den Menschen nur noch Biber gäbe, keine erstrebenswerte. Damit das nicht passiert, damit ein natürliches Gleichgewicht zustande kommt, müssen eben alle Arten mit anfassen. Und das ist letztendlich das, worum es Helge Bruelheide geht.

Und den anderen Autorinnen und Autoren vom „Faktencheck Artenvielfalt Deutschland“. Das Papier ist das erste seiner Art und man mag es angesichts des Umfangs von mehr als 1250 Seiten kaum noch so nennen. Aber so kompliziert ist das eben, mit dem Artenschutz. Und so umfangreich das, was wir über die biologische Vielfalt in Deutschland wissen. Die Aussage, die über allem steht: Die Vielfalt der Lebensräume in Deutschland nimmt ab. Mehr als die Hälfte der unterschiedlichen Lebensräume – wie Wald, Küsten, Boden, Agrar- und Offenflächen, aber auch Städte – befinden sich in einem ungünstigen Zustand. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein Drittel der untersuchten Arten gefährdet ist und drei Prozent bereits ausgestorben sind.
Bitteschön, ein Quoten-Biber! – Rechte: imago/imagebroker
Die Autorinnen und Autoren haben sich aber nicht nur den Zustand der deutschen Biodiversität angesehen und welche Folgen daraus resultieren, sondern auch geschaut, wie sich eine Gefährdung entwickelt. Christian Wirth, Botaniker an der Universität Leipzig, Gründungsdirektor des Biodiversitätsforschungszentrums iDiv und ebenfalls Autor des Berichts, zeigt eine Grafik, auf der bedrohlich viele Pfeile nach unten gehen. Die Tabelle beinhaltet den Zustand unterschiedlicher Tiergruppen in jeweils unterschiedlichen Lebensräumen. Egal, ob Säuger, Pflanzen oder Vögel: Beim Agrar- und Offenland haben fast alle Arten einen roten Pfeil nach unten. „Rote Pfeile bedeuten einen Trend in der Gefährdungssituation, der negativ ist“, so Wirth. Das ist auch bei den Binnengewässern und Auen der Fall, wobei sich die Situation für Vögel und Säuger dort gebessert hat: prima, blauer Pfeil nach oben! Im urbanen Lebensraum prangt dafür ein großes Fragezeichen. Denn für wirbellose Tiere und Pflanzen gibt es hier einfach zu wenige Daten, als dass man Trends ablesen könnte.
Tabelle zeigt verschiedene Klassen von Lebewesen wie Säugetiere un Pflanzne und die Lebensräume Agrar-/Offenland, Wald und Binnengewässer. Pfeile zeigen an vielen Stellen einen Trend zu höherer Gefährdung, positiver Trend bei Säugetieren und Vögeln bei Binnengewässern.
Aber was bedeutet das jetzt für unsere Ökosysteme? „Dazu haben wir mit sehr viel Mühe über 15.000 Zeitreihen aus Deutschland für alle wichtigen Artengruppen zusammengesammelt und auch für die Lebensräume“, so Wirth. Also eine gehörige Fleißarbeit veranstaltet. Wirth und der Rest vom Team erwarten dafür kein Bienchen, sondern dass die Ergebnisse ernst genommen werden. Ob Vögel im Agrarland oder Pflanzen und Wirbellose in Gewässern: Die Gefährdungstrends einzelner Arten scheinen sich auch in der Entwicklung der Artenvielfalt zu zeigen. Das gilt auch für positive Entwicklungen, wie bei der Vogelvielfalt an Binnengewässern. „Der wichtige Punkt an der Stelle ist, dass wir jetzt zum ersten Mal zeigen, dass die Trends in den Lebensräumen und in den Gefährdungskategorien sich tatsächlich durchpausen auf die Artengemeinschaften“, so Wirth. Großes Defizit und auch der Grund, warum die bunten Grafiken so viele Lücken haben: Obwohl sie eine unserer wichtigsten Ressourcen sei, gebe es für biologische Vielfalt in Deutschland noch kein behördliches Monitoring. Immerhin befänden sich aber Programme in der Entwicklung.
Wann haben Sie zuletzt einen Schwalbenschwanz gesehen? – Rechte: imago/Westend61
Das Problem mit Tabellen, Diagrammen und Zahlen ist außerdem, dass man sie weder kuscheln noch sonst wie anfassen kann. Aber spätestens seitdem Autofahrende ihre Windschutzscheibe nicht mehr alle zweihundert Kilometer bei Tank und Rast schrubben müssen, ist klar, dass bei den Dingen, die in Deutschland kreuchen, fleuchen und wachsen, etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. „Da sind die Schmetterlinge. Schauen Sie doch mal raus, dann sehen wir vor allen die Kohlweißlinge. Was sehen wir denn da noch großartig anderes?“, fragt Alexandra-Maria Klein, Ökologin an der Uni Freiburg und unter anderem Leitautorin des Kapitels im Bericht, das sich mit Agrar- und Offenland beschäftigt. Nun gut, vielleicht kommt noch ein Pfauenauge vorbei, da muss man aber schon Glück haben. Von der buntgemusterten Vielfalt aus Kindheitstagen ist wenig übrig geblieben und für die Zöglinge von heute bleibt nur der Gang ins örtliche Schmetterlingshaus.

Alexandra-Maria Kleins Liste ist lang: Das Deutsche Filzkraut trägt zwar die Republik im Namen, kommt aber trotz einstig üppiger Verbreitung nur noch selten vor, etwa in Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern. Oder das rundblättrige Hasenohr: Auch, wenn sich mit einer Pflanze schlecht kuscheln lässt, klingt diese hier wenigstens danach. Und sieht mit ihren runden Blättern und spitzen Blüten ungewohnt exotisch aus, was wahrscheinlich daran liegt, dass die meisten Menschen diese Pflanze noch nie zu Gesicht bekommen haben. Aufgrund intensiver Ackerbewirtschaftung ist der Bestand stark zurückgegangen.
… oder ein rundblättriges Hasenohr? – Rechte: imago/Avalon.red
Die Art und Weise, wie sich Landwirtschaft in Mitteleuropa entwickelt hat, ist aber nicht der einzige Grund für den Rückgang der Arten im Lande. Oder anders gesagt: Immer auf den pestizidbeträufelten Monokulturacker zu hauen und den schwarzen Peter nur den Bäuerinnen und Bauern zuzuschieben, wäre etwas stark vereinfacht. Die vier wichtigsten Treiber für den Biodiversitätsrückgang sind Lebensraumverlust, Stickstoffeinträge, Schadstoffe und der Klimawandel. Nun, klingt ja erstmal gar nicht so kompliziert. Indirekt sind die Einflüsse natürlich entschieden vielfältiger. Da spielen Treiber wie moderne Technologien, Wirtschaftswachstum, Bildung und Konsumverhalten eine wichtige Rolle. Und: Umweltpolitik.
Karte zeigt Anteile von Schutzgebieten an Gesamtfläche in Flächen so groß wie große Landkreise. Besonders im Westen und Südwesten hohe Anteile an Schutzflächen.
„Wir haben uns ja die Frage gestellt, ob wir schon die politischen Instrumente haben, wirklich auch eine Änderung in diesem doch sehr traurigen Trend der Biodiversität herbeizuführen“, sagt der Hallesche Geobotaniker Helge Bruelheide. „Und grundsätzlich muss man sagen, wir haben in Deutschland und auch auf der europäischen Ebene im Grunde alle Instrumente, die wir brauchen.“ Ein erstaunliches Fazit, wo es doch – wie etwa beim Klimaschutz – nur allzuoft an politischer Einsicht fehlt. Doch bei all den Richtlinien zeige sich, dass sie nicht unbedingt gut aufeinander abgestimmt sind und sich teilweise sogar gegenseitig ausbremsen. Hier besteht also akuter Handlungsbedarf.
Ist das alles wirklich nur eine politische Frage? Und warum hätte es auch sein Gutes, wenn sich die erste Biodiversitätskrisen-Leugnerschaft entwickelt?

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Termine

Mittwoch, 9.10. – online
Ein anderthalbstündiger Workshop des Zentrum Klimaanpassung geht der Frage nach, wie ein klimaangepasstes Schulgelände aussieht und wie Schüler*innen, Eltern und Schulpersonal beteiligt werden können. Registrierung hier
Dienstag, 15.10. – Berlin und online
Spitzenvertreter aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft diskutieren am 15. Oktober beim Deutschen Klimatag in Berlin, wie wir mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr „stärken, was uns verbindet”, u.a. mit Vizekanzler Robert Habeck.
14.-16.10. – Saalfeld, Triptis, Jena
Ernst Paul Dörfler liest aus „Das Liebesleben der Vögel“ und zeigt, was wir vom Zusammenleben der Vögel über Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit lernen können. Infos

Klima und Menschheit

Bund legt Regierungsstrategie zur Klimaanpassung vor
Umweltministerin Lemke sagte am Dienstag, die Strategie trage dazu bei, Ökologie, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland auf die Folgen der Erderwärmung vorzubereiten. Zu den aufgeführten Maßnahmen gehören etwa der Schutz von Menschen vor Hitze, mehr Grünflächen in den Städten sowie bessere Alarmsysteme bei Unwetterereignissen. Ziel ist es, die meisten Maßnahmen bis 2030 umzusetzen. Deutschlandfunk
Deutschlandticket-Vertrieb: Verbraucherzentralen sehen Mängel und Unterschiede bei Verkauf und Transparenz
Der Verbraucherzentrale Bundesverband moniert Mängel im Vertrieb des Deutschlandtickets. Das Angebot unterscheide sich von Verkehrsbetrieb zu Verkehrsbetrieb deutlich. So würden zwar die meisten das Ticket auf der Website anbieten, aber nicht alle hätten eine App. Bedenklich seien zudem unklare Informationen zu Bonitätsprüfungen und teilweise widersprüchliche Angaben zu Kündigungsfristen, welche für Verbrauchende problematisch werden könnten. Unterschiede bestünden auch beim Ticketformat. So sei nicht überall ersichtlich, dass das Ticket auch als Karte erhältlich sei. iphone-ticker
Wieder „Volkswagen“? VW senkt Preis für Elektroauto ID.3 erheblich
In Kombination mit einer bis Ende des Jahres gültigen Kaufprämie landet der elektrischen Kompaktwagen jetzt bei einem Listenpreis unter 30.000 Euro und ist damit gut 7.000 Euro billiger geworden. Volkswagen zufolge wolle man damit auf die Wünsche der preissensiblen Kundschaft reagieren. Vorausgegangen waren sinkende Absatzzahlen und der Druck durch günstige Konkurrenzprodukte in Asien. Eine Marktforscherin sagte MDR AKTUELL, dass auch drohende Strafzahlungen eine Rolle spielen würden, sofern die Flotte zu viel CO2 verursache. Dem könnte mit höheren Absatzzahlen im E-Segment entgegnet werden. MDR AKTUELL
Offshore-Wasserstoffproduktion könnte Deutschland Milliarden-Ersparnis bringen
Wasserstoff auf dem offenen Meer herzustellen, ist effizienter als auf dem Land. Zu dieser Erkenntnis kommt eine Studie des Fraunhofer IEE. Die Forschenden zeigen, dass so in Deutschland 4,3 Milliarden Euro bei der Produktion gespart werden könnten. Ursache für die verringerten Kosten sei eine höhere Effizienz durch weniger Energieverluste, sowie geminderte Kosten für die Investition in lange Transportwege für den Strom. Infos bei MDR WISSEN

ARD, ZDF und DRADIO

Überleben! – Unsere Chancen

Meeresbiologin und Systemforscherin Antje Boetius (AWI Bremerhaven) stellt sich der Frage, wie der Mensch in Zukunft überleben kann, ohne die Natur zu zerstören.

Besseres Stadtklima durch Citytrees?

Die Stadt Differdange in Luxemburg testet künstliche Bäume an Orten, wo keine echten gepflanzt werden können.

Fünf Jahre Klimastreik: Von Protestwelle zu sanfter Brise?

Was wurde aus den vielen tausend Schülerinnen und Schülern von Fridays-For-Future?

👋 Zum Schluss

Sie wissen, was jetzt kommt. Ich überlege gerade, ob es sinnvoll wäre, hier im Newsletter eine Rubrik für klimafreundliche Rezepte einzuführen. Aber gibt’s ja schon alles. Und so schwer ist das nun auch nicht: Neben offensichtlichen Faktoren wie Energieverbrauch und Saisonalität kommt’s eben auf die Zutaten drauf an.

Die Kolleg*innen von Utopia haben hier eine kleine Auswahl an Lebensmitteln hinsichtlich Klimabilanz sortiert. Dass Winter-Erdbeeren und Flug-Ananas nicht grad gut wegkommen, ist klar. Aber es gibt Überraschungen: Auberginen zeigen sich fast so klimafreundlich wie Mohrrüben und tiefgefrorene Garnelen so schädlich wie Rindfleisch.

Und was bio betrifft: Unter Umständen sorgt der Anbau für mehr Emissionen als eine konventionelle Landwirtschaft, weil die effizienter ist. Nur sind direkte Emissionen eben nicht alles. Bio-Lebensmittel kommen etwa der Biodiversität zugute (lässt sich leicht merken) und die wiederum dem Klima.

Mit diesem Knoten im Kopf entlasse ich Sie für diese Woche. Passen Sie auf sich und die Welt auf.

Herzlich
Florian Zinner

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