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#157
vom 6. September 2024

Ob Dürre oder nass – in vino veritas!

von Florian Zinner
Hallöchen.

Ach hach. Hitzige Zeiten, was? Möglicherweise steigt sie Ihnen zu Kopf, die landes- und sogar bundespolitische Hitzigkeit dieser Tage. Oder die meteorologische. Da ragt die längste Hitzewelle des Jahres also schelmisch bis in den Spätsommer. Einen kühlen Kopf zu bewahren, ist also in jedem Fall eine gute Idee.

Ob da ein Riesling Spritz aus regionaler Beschaffung eine gute Idee ist, werde ich nicht beurteilen – entscheiden Sie das selbst. Aber der Weinbau ist ja gewissermaßen schon was für die Sinne, bevor man überhaupt am Gläschen nippt: Rebberge, Güter, Flaschenetiketten – alles eine wärmende Angelegenheit ohne Hitzigkeit.

Wobei man die heuer den Winzerinnen und Winzern nachsehen würde, klimawandelbedingt. In diesen Tagen beginnt die Lese – und Sie, beginnen Sie gern das Lesen.

ZAHL DER WOCHE

0,9

… Grad zu warm war der Sommer 2024 in Deutschland, sagt der DWD, für den die warme Jahreszeit statistisch bereits am 31.8. endet. Verglichen mit dem alten langjährigen Mittel waren es sogar zwei Grad. Die meisten Sommer- und Hitzetage wurden in den Flusstälern Sachsens und Süddeutschlands gezählt. Am heißesten war es am 13.8. mit 36,5 Grad in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Sommer 2024 ist nach Informationen des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus zudem der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen – in Europa und weltweit.

Schau mal ins Glas wie’s Klima wird

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfehlen, auf Alkohol komplett zu verzichten. Hilfe in Ihrer Nähe bei Suchtproblemen finden Sie hier.
Wer sich dem Weinbau widmen möchte, sollte nicht nur ein Önologie-Studium in Betracht ziehen. Sondern auch ein paar Trainingsrunden im Himalaya. „Ja, Sie schnaufen, das hat es in sich“, lacht Matthias Hey. „Wir haben pro Jahr pro Rebstock 15 Arbeitsgänge, bei 10.000 Rebstöcken. Das sind einige Male Mount Everest-Besteigung.“ Immerhin schnauft Hey selbst, während er das sagt. Dabei hatte alles so lauschig angefangen: Immer in Richtung Steinmeister radeln, diesem patenten Weinberg kurz vor Naumburg, hinter der stattlichen Bananenstaude links halten, dann die staubige Kiesstraße hoch und schon sieht’s aus wie auf einem Gehöft in der Toskana. Die Deutschen reden ja immer gern von einer Art Toskana, wenn es mal etwas milder und hügeliger wird. So spricht die Sehnsucht auch hier aus dem Volksmund, im Saale-Unstrut-Gebiet, der nördlichsten Weinregion der Republik, in der es an diesen frühen Septembertagen um die dreißig Grad hat. Auf mehr kommt auch die echte Toskana grad nicht.

„Noch vor dreißig, vierzig Jahren war es so, dass es auch Jahrgänge gab, in denen die Trauben kaum oder nicht gut ausgereift sind. Das ist vorbei.“ Der Weinbau am südöstlichen Rand des Ballungsraums Leipzig-Halle ist damit kein Freizeitvergnügen mehr, sondern als Wirtschaftszweig angekommen. „Und je wärmer es wird, desto besser passen auch Rotweine oder rote Rebsorten hierhin. Und wenn man sich bestimmte Prognosen anschaut, dann kann es sogar sein, dass ab dem Jahr 2050, 2060 der Rotwein sogar dominiert.“ Und so der Tempranillo von der iberischen Halbinsel nach Mitteleuropa rückt, weil es in der Heimat zu unwirtlich geworden ist.
Man könnte jetzt denken, der junge Winzer Matthias Hey erzählt das alles voller Verzückung. „Ich bin ein sehr positiv denkender Mensch, deswegen kommt das vielleicht auch so rüber, dass ich mir da jetzt nicht noch mehr graue Haare wachsen lasse. Tatsächlich ist es so: Es macht mir riesengroße Sorgen.“ Denn auch wenn die höheren Temperaturen nicht nur schlecht für den Weinbau sind – so richtig wisse man ja gar nicht, wo das alles hingeht. Ein paar Schritte weiter – erstmal keine Stufen mehr – zeigt sich der Klimawandel dann von seiner hässlichen Seite. „Hier sieht man, was das Problem dieses Jahr ist“, sagt Hey. Sehen tut man eigentlich kaum etwas. Die frühen warmen Temperaturen haben in diesem Jahr zu einem frühen Austrieb geführt, ein Frosteinbruch im April hat wiederum achtzig Prozent der Lese vernichtet.

An einem Rebstock baumeln derweil zwei Trauben des Blauen Zweigelt. Die eine fast ausgereift, die andere blass und klein. „Da haben es einige Trauben überlebt, beziehungsweise einige Trauben sind auch mit dem zweiten Austrieb nachgekommen. Die sind ungefähr vier bis sechs Wochen zurück und wir müssen jetzt schauen, wie wir diese Lese überhaupt takten.“ Und zwar am besten, bevor sie sich Vögel und Waschbären schnappen – das rare Gut ist in diesem Jahr nicht nur bei Weinkennern beliebt. 
Es ist nicht nur das zeitige Frühjahr, das mit zu frühen Austrieben frohlockt. „Das Jahr 2024 geht wahrscheinlich als das feuchteste Jahr in vielen Weinbaugebieten ein“, sagt Manfred Stoll, Önologe und Leiter des Instituts für allgemeinen und ökologischen Weinbau an der Hochschule Geisenheim. Das Städtchen im westlichen Rhein-Main-Gebiet ist in Deutschland sozusagen der place to be, wenn man sich dem Weinbau wissenschaftlich nähern möchte und auch der Studienort von Matthias Hey. Stoll weiß, was das Zuviel an Regen für Winzerinnen und Winzer bedeutet: „Blattnässe beflügelt viele Krankheiten. Gleichzeitig hatten wir aber auch viele heftige Regenfälle innerhalb kurzer Zeit, die dann gerade in Hanglagen das Risiko der Erosion mit sich bringen.“ Bis zu einem gewissen Grad können sich Winzerinnen und Winzer an solche Ergebnisse anpassen. Gerade beim Pflanzenschutz ist aber weniger mehr, um nicht parallel Öl ins Feuer der Biodiversitätskrise zu gießen. Denn die ist einer nachhaltig ertragreichen Landwirtschaft nun ebenfalls unzuträglich. Weiß auch Matthias Hey, der zum Beispiel nur jede zweite Rebzeile mäht, entlang der Trockenmauern kleine Brachflächen etabliert und durch Einsaat nachhilft, wenn die ursprüngliche Artenvielfalt abhandengekommen ist. Das nützt auch bei plötzlichem Starkregen.

Mit neuen Sorten in eine angepasste Klimazukunft?

Eine verträgliche Lösung in Sachen Blattkrankheiten und seit einigen Jahren Lieblingskind der Medienschaffenden sind neue Rebsorten – kurz Piwis, also pilzwiderstandsfähige Rebsorten. „Das heißt, der Winzer kommt nicht komplett ohne Pflanzenschutz aus, aber kann das vielleicht auf dreißig Prozent zurückfahren.“ Eine solche Sorte, die um die Jahrtausendwende größere Verbreitung fand, ist zum Beispiel Regent, ein tiefroter Wein (mit Aromen nach Kirschen!). Wie auch die neue Weißweinsorte Calardis blanc (feinwürziges Bukett!) kommt er ganz gut mit echtem und falschem Mehltau klar.

Weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist und es auch dann bleibt, wenn er Wein trinkt, landet allerdings vornehmlich die Flasche im Einkaufskörbchen, deren Aufschrift er kennt. Hier ist noch Aufklärungsarbeit notwendig, sagt Stoll. „Ich glaube, wir wären gut beraten, uns letztendlich auch in den einzelnen Regionen ein eigenes Profil zu erarbeiten.“ Also die Variante Bordeaux: Statt Rebsorten werden Verschnittweine eines Anbaugebiets angeboten, die für sich sprechen. Piwi-Weine könnten als Cuveé die Marke einer ganzen Anbauregion tragen – der Saale-Unstruter vielleicht, der Meißner, der Franke. Was zählt, ist der Geschmack.
Bei Matthias Hey stehen noch die klassischen Sorten am Hang: Riesling, Traminer, Burgunder, weiß und grau. Bei der kleinen Fläche neue Varianten unterzubekommen, ist gar nicht so einfach. Und als kleiner Betrieb kann man sich bei den Weinliebhaberinnen und -liebhabern eben auch nicht ganz so viele Experimente leisten. Dennoch: „Das ist dann eine Aufgabe auch der Winzer in Zukunft, diesen Rebsorten auch mehr Platz zu geben und wahrscheinlich, so meine Sicht, wird es ein Nebeneinander geben.“ Und das Ganze hört bei der Pilzresistenz nicht auf, sagt Önologe Manfred Stoll. Denn nach der Nässe kommt die Dürre: „Da gilt es letztendlich an die Züchtung zu appellieren, trocken-resistente Sorten zu finden, die sich gleichzeitig aber auch an unsere Bodenverhältnisse anpassen.“

Derweil muss anderes Werkzeug her. Ein paar Schritte über den sommerlich knirschenden Muschelkalkboden und schon hockt Matthias Hey vor einer der neuesten Investitionen auf dem Gut: Eine Tröpfchenbewässerungsanlage. Sieht aus wie ein Schlauch, in den jemand mit dem Nagel Löcher reingehauen hat. Ist aber im Grunde komplexer. Und für den Winzer die derzeit wichtigste Klimaanpassungsmaßnahme: „Die Jahre davor haben wir immer gedacht, die Natur wird das selber richten. Die letzten Dürrejahre haben uns aber gezeigt, dass die Niederschlagssumme eben so gering ist, dass selbst die tief wurzelnden Rebstöcke in vielen Jahren zu wenig Wasser haben, um nennenswerte Erträge zu bringen.“ Mit 1,5 Liter pro Tropfloch in der Stunde kann die zähneknirschende, wartungsintensive Investition also einen guten Regen simulieren. Klimawandel ist Arbeit – und Geld.

Der Weinbau hat es leichter als der Obstbau

Apropos: Seine Existenz sieht Hey nach diesem Jahr noch nicht bedroht. Das liegt teilweise an staatlichen Hilfen und daran, dass Winzerinnen und Winzer einen schlechten Jahrgang mit mengenmäßig guten Jahrgängen überbrücken können. Anders als Obstbäuerinnen und -bauern: Ein lagernder Apfel wird über die Jahre nicht zwangsläufig besser, so sagt man. „Also mit fünfzig Prozent mehr, fünfzig Prozent weniger Trauben, das kennt man letztendlich“, sagt Hey. Die achtzig Prozent Verlust wie in diesem Jahr dürfen sich aber nicht so schnell wiederholen.

Hey wünscht sich, für schlechte Jahre vorsorgen zu können. „Dass man in guten Jahren steuerfreie Rücklagen bilden kann, um eben nicht immer wieder anklopfen zu müssen und um Hilfen betteln zu müssen.“ Steuerfreie Rücklagen – eine Klimaanpassungsmaßnahme des Fiskus, sozusagen.

Aber auch wenn Erderwärmung und Extremwetter seine Existenzgrundlage bedrohen: Wenn Matthias Hey über den Klimawandel spricht, scheint es ihm gar nicht so richtig um sich selbst zu gehen. Er hoffe, dass es viele pfiffige, intelligente, positive und zugewandte Menschen gibt, die sich dieser immensen gesellschaftlichen Herausforderung stellen und nicht wegducken. „Das ist, glaube ich, gerade bei uns in der Gesellschaft so ein Reflex, dass man versucht, sich vor vielen Dingen zu verstecken, innerlich und mental, aber dadurch lösen wir ja keine Probleme.“ Manchmal hilft es eben schon, ein paar steile Stufen den Weinberg rauf zu nehmen, um einen Blick aufs große Ganze zu erhaschen.

Termine

Sonnabend, 7. September – Oebisfelde/Drömling (bei Wolfsburg)
Für Kurzentschlossene: Unter dem Titel „Feuchtgebiete“ gibt es noch Plätze für eine Radtour entlang des Grünen Bandes, die sich der Frage widmet, warum Biodiversität und Moorschutz zusammengehören. Anmeldung bei der Heinrich Böll Stiftung
16.9 bis 20./22.9 – bundesweit
Gleich zwei Wochen auf einmal: Bei der Woche der Klimaanpassung und der Europäischen Mobilitätswoche gibt es wieder zahlreiche Info- und Mitmachaktionen vor Ort.
17. bis 18.9. – Hamburg
Die Initiative Culture4Climate lädt zur bundesweiten Konferenz für Klimaschutz im Kulturbereich ins Museum für Kunst und Gewerbe. Die Teilnahme ist kostenfrei.
September – u.a. Jena, Dessau-Roßlau, Querfurt, Leipzig, Dresden
Das Stadtradeln ist wieder in vollem Gange. Noch gute zwei Wochen können in vielen Städten wieder Kilometer gesammelt werden – in Dresden geht es sogar erst los –, um nicht nur das Team, sondern auch die Stadt nach vorn zu bringen. Alle Infos

Klima und Menschheit

ADFC ruf auf, Fahrradfreundlichkeit zu bewerten
Um die Fahrradtauglichkeit deutscher Kommunen bewerten zu können, ruft der Allgemeine Deutsche Fahrradclub zum Fahrradklimatest 2024. Radfahrende können vom 1. September bis 30. November an einer Onlinebefragung teilnehmen. Die Untersuchung findet bereits zum elften Mal statt und sei eine der größten Befragungen zum Radfahrklima weltweit. Fahrradfreundlichste Großstadt war beim Test 2022 das westfälische Münster (Note 3,0). Bei den Städten mit einer Bevölkerung ab 500.000 gewann Bremen (3,6). Fahrradfreundlichste Stadt in Mitteldeutschland war Leipzig mit einer Note von 3,8.
Leeres Braunkohledorf für 37 Millionen Euro
Die Gemeinde Merzenich (NRW) hat das leer stehende Braunkohledorf Bergwald am Tagebau Hambach von RWE zurückgekauft. Bezahlt wird die Summe überwiegend vom Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen auf Grundlage des Investitionsgesetzes Kohleregionen. Wegen des vorgezogenen Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung in Deutschland wurde das ländliche Straßendorf mit 140 Häusern nicht mehr wie ursprünglich geplant abgebaggert. Hintergründe bei der tagesschau
Umweltzonen verbessern psychische Gesundheit
Umweltzonen haben einer neuen Studie zufolge nicht nur positive Auswirkungen auf die Luftqualität, sondern verbessern auch die psychische Gesundheit. Das legen Forschende des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI Essen) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) nahe, die Luftverschmutzung und die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen untersucht haben. So sei nicht nur die Belastung durch Feinstaub und Stickstoffoxide in den Umweltzonen gesunken. Dies habe auch Auswirkungen auf die Psyche. So vermindere die sauberere Umgebung das Risiko einer diagnostizierten Depression um 3,5 Prozent, von Angststörungen um vier Prozent. Insbesondere sank das Risiko für jüngere Menschen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren bei steigender Luftqualität. Dies erklärten die Wissenschaftler mit Auswirkungen von Feinstaubbelastung auf das sich noch entwickelnde Gehirn sowie den Lebensumständen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Hintergründe bei MDR WISSEN

ARD, ZDF und DRADIO

Elfjähriger pflanzt einen Wald

Manchmal haben auch kleine Projekte eine große Wirkung. Lenny aus Deutschland pflanzte 17.000 Bäume.

So verändert Sahra Wagenknecht die Klimapolitik

Kemferts Klima-Podcast: Das BSW könnte in beiden Ländern in die Regierung einziehen. Und damit auch Einfluss auf die künftige Klimapolitik nehmen. Aber wofür steht das BSW beim Klimathema? 

Kanada: Leben mit dem Feuer 

Eine Fläche so groß wie die Schweiz ist in Kanada im letzten Jahr verbrannt. Die Brände sind herausfordernd für die Feuerwehr und traumatisierend für die Menschen vor Ort. 

Speicher für die Energiewende gesucht

Das Totschlagargument gegen Erneuerbare: Es fehlen Energiespeicher. Stimmt auch. Höchste Zeit, das zu ändern.

👋 Zum Schluss

Ich hatte es zwar schon weiter oben verlinkt, aber wer klickt schon auf Links im Text. Deshalb sei Ihnen noch mal ausdrücklich der Imagefilm des Burgenlandkreises empfohlen, in dem ein großer Teil des Weinbaugebiets Saale-Unstrut liegt. Und da unterstelle den Mitteldeutschen noch mal jemand, sie hätten den Humor an sich selbst verloren.

Und den an der Toskana des Nordens.

Passen Sie auf sich und die Welt auf. Herzlich

Florian Zinner

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