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#154
vom 16. August 2024

Klimakiller Temu: Warum wir trotzdem kaufen

von Katja Evers
Liebe Lesenden,

wenn Sie online nach einem Produkt suchen, werden Sie seit ein paar Monaten unweigerlich immer wieder auf eine Seite stoßen: Temu. Mit einem aggressiven, teuren (15 Millionen Dollar beim Super Bowl) und weltweiten Marketing ist der neue Online-Marktplatz aus dem Nichts zu einer echten Konkurrenz für etablierte Plattformen wie Amazon geworden. In nur zwei Jahren. 

Allein in der EU hat der chinesische Discount-Onlineshop mittlerweile mehr als 45 Millionen Nutzende monatlich. Tendenz steigend. Gleichzeitig ist das Image von Temu nicht unbedingt gut: Warnungen vor giftigen Stoffen, Abmahnungen zu manipulativem Verhalten und Kritik an diversen Zollpraktiken sind nur einige Punkte. Selbst die Konsumierenden sind nicht immer glücklich. Warum sie trotzdem am Ball bleiben und was das fürs Klima bedeutet. Das schauen wir uns jetzt mal an.

Erst aber wie gewohnt zur Zahl der Woche…

ZAHL DER WOCHE

90

… bis 108 Milliarden Dollar. Das ist der Wert, der Schiffe, die laut klimareporter im Jahr 2030 "gestrandet" sein werden, die also ihren Wert früher verlieren als erwartet. Begründet ist das in der Energiewende. Denn die besagten Schiffe sind Öl- und Gastanker, die sich kaum umnutzen lassen. Zwar boomt der Transport derzeit durch Kriege und Pandemien - etwa, weil längere Fahrten notwendig werden -, auf lange Sicht ist es aber wahrscheinlich, dass die Flotte ihren Nutzen verliert. Nicht nur ein Problem für die Reedereien, sondern auch für die Banken, die Kredite vergeben haben. Der Schifffahrtschef der Hamburg Commercial Bank gibt bereits zu bedenken:  "Langfristig werden wir vielleicht nicht diejenigen sein, die Kredite für Öltanker vergeben."

"Shoppe wie Milliardäre": Was Temu so besonders macht

Was denken Sie, wenn Sie an Milliardäre denken? Teure Autos, eine Yacht, ein braun gebrannter Typ im weißen Hochglanzhemd umgeben von vollbusigen Frauen mit teurem Champagner? Die Yacht, die Frau und den Champagner bekommen Sie auf Temu. Allerdings alles nur aufblasbar.

Dass Temu damit wirbt, man könne „wie ein Milliardär shoppen“ hat weniger mit Qualität zu tun, sondern damit, dass man sich tatsächlich alles leisten kann und auch alles findet. Die aufblasbare Frau gibt es ab 9,09 €, die Champagnerflasche in der Größe eines Kleinkindes kostet 4,44 € und noch während ich Ihnen das schreibe ist bei mir ein neues Angebot aufgeploppt. Jetzt kostet die Flasche nur noch 2,67 €. Und genau dort beginnt sich Temu von anderen Anbietern abzuheben. 

Shoppen in Dauerschleife: Holt Temu das "Bummeln" ins Netz?

Temu ist besonders geschickt darin, die Menschen auf die Plattform zu ziehen und zu halten. Etwa durch massive (personalisierte) Werbung auf Social Media, spontane Preissprünge, die Möglichkeit, beinahe alles auf einer Seite zu erwerben oder durch Spiele, mit denen die Nutzenden sich zusätzliche Rabatte und bessere Lieferzeiten erspielen können.
Während die Verbraucherzentrale Bundesverband Temu wegen mehrerer Regelverstöße abgemahnt hat und teils von manipulativem Verhalten spricht, äußert sich der E-Commerce-Experte Alexander Graf fast schon bewundernd über die Errungenschaften von Temu. Der Anbieter habe das geschafft, wovon andere Plattformen nur träumen würden. Nämlich ein "Bummeln“ im Netz. Wie in der Fußgängerzone würden Menschen durch die Plattform "gehen", sich inspirieren lassen und den Kauf nebenbei erledigen. Auf Temu würden die Menschen sich eher wie auf Tik Tok oder Instagram bewegen. Allein die Chinesen verbrächten dort durchschnittlich 50 Minuten am Tag.

Von "Bummeln" möchte Ralf Deckers vom Institut für Handelsforschung nicht sprechen. Er hat Befragungen zum Nutzungs- und Konsumverhalten unter anderem auf Temu durchgeführt und sieht – zumindest in Deutschland – eher den Trend, dass Nutzende etablierte Plattformen wie Amazon als Produktsuche und zum Preisvergleich verwenden, das besagte Produkt dann aber bei Temu kaufen. Das Endergebnis ist aber das gleiche: Der Konsum findet auf Temu statt. Und das zwar nicht zu einer hohen Belastung für den Geldbeutel, aber trotzdem zu einem hohen Preis.

Der hohe Preis: Wie die Mechanismen dem Klima schaden

In Zeiten diverser Krisen und finanzieller Unsicherheiten scheint eine Plattform wie Temu gerade recht. Das zeigt auch die Studie von Ralf Deckers. Das Gefühl, ein Schnäppchen zu machen und schließlich durch das eigene Spielverhalten noch etwas zusätzlich zu bekommen, führt zu einer doppelten Dopaminausschüttung, so die Psychologin Lea Dohm, die unter anderem Psychologists for Future mit initiiert hat. Beides aktiviert unser Belohnungszentrum im Gehirn. Ein Hochgefühl, das solange anhält, wie wir konsumieren. Gleichzeitig spielt Temu mit Verlustängsten, indem es mitteilt, wie viele das gleiche Produkt bereits im Warenkorb haben oder wie viele Produkte es überhaupt noch gibt. Trotz eines unguten Gefühls dabei merke ich selbst, wie schnell man versucht ist, immer weiterzuklicken.
Entsprechend groß ist der Anreiz zum Überkonsum, der zwar auch bei anderen Händlern vorkommt, mit Temu und der Zusammenstellung psychologischer Mechanismen aber eine neue Dimension erreicht:
 
Bereits Ende 2023 ist die Anzahl von Paketen aus China sprunghaft angestiegen und hat sogar für Probleme bei der Luftfracht gesorgt. Die Agentur Reuters berichtete Anfang 2024, dass laut Daten des Luftfracht- und Luftfahrtberatungsunternehmen Cargo Facts Consulting allein Temu etwa 4.000 Tonnen täglich verschicken würde (selbst bei großen Firmen wie Apple sind es "nur" etwa 1.000 am Tag, Amazon dürfte aber locker darüber liegen). Zusammen mit den Waren anderer Asienanbieter wie Shein, Alibaba und Tik Tok seien das 100 Frachter vom Typ Boeing 777 täglich.

Frachter, die nicht mal schnell zusätzlich zur Verfügung standen, auf die Temu aber derzeit noch angewiesen ist. Denn das Unternehmen hat keine eigene Lagerlogistik (auch, wenn derzeit in den USA eine aufgebaut wird), sondern fungiert nur als Vermittler zwischen Kunden und Verkäufer und kann deswegen massiv Kosten sparen. Kurze Lieferzeiten sind deshalb nur mit viel Produktionsdruck und Flugverkehr möglich. Und das zu einem hohen Preis für das Klima, denn allein, dass die Waren statt per Schiffscontainer per Flugzeug kommen, sorgt für einen 50-fach höheren CO2-Ausstoß, sagt Martin Franz, Wirtschaftsgeograph an der Universität Osnabrück, im ZDF

Verzichten kann Temu aber nicht so einfach: Zu lange Lieferzeiten können dazu führen, dass die Stimmung des Käufers kippt, so Nadja Hirsch vom Institut für Klimapsychologie. Für ein Unternehmen, das nicht durch Produktqualität glänzen kann, sondern bei dem die Dopaminausschüttung vor allem beim Kauf selbst geschieht, ist das überlebenswichtig. Und ebenfalls etwas, was Temu von anderen Billiganbietern unterscheidet. 

Für Nadja Hirsch macht die Plattform aus rein psychologischer Sicht alles richtig: „Da werden alle Register gezogen, alle Mechanismen genutzt. Es gehört eine gewisse Portion Reflektiertheit dazu, um sich da nicht auch reinziehen zu lassen.“ Und genau damit lässt sich auch ein eigentliches Paradox erklären. 

Der manipulierte Konsument, der trotzdem konsumiert

In der Studie von Ralf Decker geben ein Großteil der Befragten nämlich an, sich von Temu manipuliert zu fühlen. Auch in Sachen Nachhaltigkeit wird das Unternehmen als unglaubwürdig eingestuft: Die Nutzenden gehen davon aus, dass durch die Chemikalien und das Plastik größere Umweltbelastungen entstehen, dass die Produkte nicht lange haltbar sind und mehr Verpackungsmüll entsteht. Trotzdem kaufen Sie auf der Plattform ein.
Für Julia Hirsch ein klares Zeichen dafür wie stark die psychologischen Praktiken von Temu wirken. Der Anreiz ist größer als die möglichen negativen Auswirkungen. Wie stark, dass hänge aber von den jeweiligen persönlichen Wertigkeiten ab, wie wichtig also Faktoren wie soziale Zugehörigkeit in Konkurrenz etwa zur Nachhaltigkeit erscheinen.
 
Viele würden aber negative Gefühle eher unterdrücken, wenn es sonst unsere Freude trüben würde, ergänzt Lea Dohm. „Verhaltensänderung ist selten die Reaktion darauf. Wir neigen eher dazu, Quellen auszublenden, abzuwerten, Argumente irgendwie in uns herumzumanipulieren, sodass sie sich nicht mehr ganz so unattraktiv anhören.“ In Sachen Konsum sei der typische Mechanismus die Verantwortungsdiffusion. „Dass gesagt wird: Das ist nicht meine Verantwortung. Die Unternehmen machen das ja eh. Ob ich das jetzt kaufe oder nicht, macht eh keinen Unterschied.“ Eine Erklärung, die auch Nadja Hirsch und Ralf Deckers nennen. 

Genau dieses Gefühl der Machtlosigkeit müsse in Sachen Klima aber umgedreht werden, meint Nadja Hirsch und findet, dabei kann Temu sogar helfen. Denn die spielerische Umsetzung und die Elemente könnten auch für nachhaltige Produkte eingesetzt werden: „Oft wird Nachhaltigkeit auch immer so ein bisschen als langweilig und dröge empfunden. Ich glaube, um neue Menschen für das Thema nachhaltige Produkte zu motivieren und auch anzulocken, darf nachhaltiges Shoppen auch Spaß machen. Das sollte man nicht nur den Temus überlassen.“ Und so kann im Bestfall aus dem Klimakiller Temu vielleicht doch etwas Rettendes entstehen. Zu hoffen wäre es! 

Termine

ab Freitag, 16. August – Dübener Heide
Heute öffnet die Wanderausstellung "Im Wald da sind die Bäume - Im Spannungsfeld von Mensch, Ökologie und Ökonomie", die noch bis 13.09 im NaturparkHaus Dübener Heide zu sehen ist. Mehr Infos 
Samstag, 24. August – Leipzig
Auf dem Leipziger Marktplatz findet an diesem Tag die Klimamesse KlimaFAIR statt. Auf dem Programm stehen Diskussionspanels zu den Themen Flughafenausbau, Klimaresilienz, Demokratiekrise, Kommunale Wärme- und Energiewende sowie eine Podiumsdiskussion zu den bevorstehenden Landtagswahlen. Dabei wird unter anderem der renommierte Kriminalbiologe Mark Benecke zu Gast sein. Mehr dazu
Donnerstag, 05. September – Chemnitz
Die Verbraucherzentrale Sachsen bietet ein kostenfreies Ausbildungsprogramm zum Klimalotsen in den Bereichen Ernährung, Klimakommunikation, Ressourcenschonung, Energie und Klimafolgeanpassungen - mit Start am 05.09 in Chemnitz und am 17.09 in Dresden. Die Anmeldung ist bereits jetzt möglich. 

Klima und Menschheit

Die Auswirkungen des Klimawandels auf das Wattenmeer
Das haben Forschende des Alfred-Wegener-Instituts untersucht. Anlässlich des einhundertjährigen Bestehens der Station veröffentlichten sie einen multidisziplinären Überblick, der die weitreichenden klimabedingten Veränderungen des Weltnaturerbes Wattenmeer zusammenfasst. "Der Klimawandel wirkt auf alle Ebenen des Wattenmeeres ein: Temperaturerhöhung und Meeresspiegelanstieg verändern die Morphologie der Küste und die Sedimentdynamik, welche das Wattenmeer seit gut 8.000 Jahren prägt", fasst der Studienautor Christian Buschbaum die Ergebnisse zusammen. Das beeinflusse die räumliche Ausdehnung von einzelnen ökologisch wichtigen Lebensräumen, wie Seegraswiesen und Muschelbänken, sowie das Vorkommen einzelner Arten im Wasser und am Meeresboden. Mehr dazu
Der weltweit größte Eisberg hängt fest
Und zwar in einem riesigen Wasserstrudel. Der A23a genannte Koloss dreht sich seit Monaten im Südpolarmeer um sich selbst, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Womöglich könne der Eisberg der sogenannten Taylorsäule jahrelang nicht entkommen, heißt es beim britischen Sender BBC unter Berufung auf Experten. Der Vorteil: Die Gefangenschaft verhindert auch, dass der Koloss getragen von Meeresströmungen wärmere Gefilde erreicht und rascher schmilzt. "A23a ist der Eisberg, der sich einfach weigert zu sterben", zitiert die BBC den Polarexperten Mark Brandon von der Open University. Bereits 1986 hatte sich der Eisberg in der Antarktis gelöst, hing dann aber jahrzehntelang am Meeresboden fest. Nach dem Loslösen im Jahr 2000 legte er zeitweise eine Art Spurt hin – um nun wieder an einer Stelle zu verharren. Weitere Infos
Anpassung und Hitzeprävention haben schon Zehntausende Menschenleben gerettet
Das berechnet eine neue Studie unter Federführung des "Barcelona Institute for Global Health". Demnach seien 2023 zwar mehr als 47.000 Menschen in Europa gestorben. Eine identische Sommerhitze hätte aber noch vor 20 Jahren zu 80 Prozent mehr Todesopfern geführt. Die Forschenden berufen sich dabei auf Temperatur und Sterbedaten des Europäischen Statistikamtes, die teils bis in das Jahr 2000 zurückreichen. Seit 2003, einem Sommer mit etwa 70.000 Hitzetoten in Europa, seien vielerorts Anpassungsmaßnahmen ins Rollen gebracht worden, schreibt die Forschungsgruppe. Und deren Erfolge ließen sich in "Was-wäre-wenn"-Berechnungen belegen. Mehr dazu

ARD, ZDF und DRADIO

Weird Animals

Ein Podcast, der sich den witzigen Details der Tierwelt nähert, dabei aber auch stets das große Ganze im Blick behält.

Wie wir Wälder retten

fragt die Doku und begleitet dabei beispielsweise Menschen, die erfolgreich gegen die Ausbreitung der Wüste kämpfen.

Die unterschätzte Klimachance

ist die Natur. Mit ihrer Hilfe ließe sich die Katastrophe vielleicht noch verhindern. Wie? Das zeigt Harald Lesch.

👋 Zum Schluss

In Sachen Temu ließe sich noch einiges ausführen. Zum Beispiel, dass Verkäufer vor zwei Wochen vor der Temu-Zentrale protestiert haben, weil Temu Strafzahlungen für jedes zurückgesendete Produkt an Sie geschickt hat. Oder, dass Temu vorgeworfen wird, Zölle und Exportkontrollen zu umgehen, indem es Teile zerlegt, einzeln versendet und damit natürlich für noch mehr Verpackungsmüll sorgt. Oder, dass Temu nun seit Ende Mai auch von der EU-Kommission als sehr große Plattform eingestuft wurde und damit nun strengeren Maßnahmen etwa im Kampf gegen illegale Produkte und Inhalte unterliegt. Oder, dass Temu nun doch Lager aufbauen will …

Sie sehen, die Bandbreite möglicher Themen ist riesig. Die Plattform ist so schnell gewachsen, dass erst jetzt viele der Regularien und Überwachungsmechanismen greifen. Während gleichzeitig auch das Unternehmen selbst an Grenzen stößt und Probleme in den Abläufen korrigiert. Gut möglich also, dass Temu sich immer mehr an etablierte Formen anpassen wird, während andere sich Temu annähern. Gerade Letzteres ist in Sachen Klima natürlich besorgniserregend. In einer Zeit, in der Fast Fashion und Billigprodukte aufgrund von Nachhaltigkeitsaspekten eigentlich eingeschränkt werden sollen, baut Amazon nun einen Billig-Shop nach dem Vorbild Temu aus. 

Trotz der negativen Aspekte, hängen geblieben ist bei mir vor allem eines: Nachhaltigkeit muss bunter und interessanter werden, um alle zu erreichen. Warum also nicht den Zeigefinger senken und sich wirklich darauf einlassen, welche (spielerischen) Mechanismen gut funktionieren. Dann hätte Temu auch einen positiven Trend gesetzt.

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Katja Evers

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