Neben den vielen technologischen Ansätzen hat der amerikanische Wissenschaftler Benjamin Sovacool von der Boston University einen Vortrag mit einem ganz anderen Schwerpunkt gehalten, der aber nicht weniger wichtig ist. Wie kann die Transformation der industriellen Dekarbonisierung gerecht ablaufen und welche Auswirkungen hat der Prozess auf die Gesellschaft? Denn die Netto-Null-Emissionen in der Industrie zu erreichen, ist auch eine soziale Herausforderung. Der Industriesektor ist nämlich die am schnellsten wachsende Emissionsquelle – und mittlerweile auch die größte, sagt Sovacool. Er ist Professor für Erde und Umwelt und ein renommierter Experte für Energie- und Umweltpolitik. Der US-Amerikaner war auch ein Hauptautor des sechsten Sachstandsberichts des IPCC.
Es ist ihm wichtig, den Fokus der Debatte auch auf die Vorteile und die Risiken des Transformationsprozesses auf die Gemeinschaft zu legen, sagt er. "Ich glaube, dass das ein Teil der Debatte ist, der fehlt." Wir konzentrierten uns häufig ausschließlich auf Technologie, Technologie und nochmal Technologie zur Lösung des Klimawandels. Aber es gehe dabei auch um andere Themen wie Ethik, Gemeinschaften, Arbeitsplätze und Lebensqualität. Das seien die Themen, bei denen einiges auf dem Spiel stehe, denn der Prozess der Dekarbonisierung sei eine heftige Zäsur. Es sei deshalb zwingend nötig, die Menschen davon zu überzeugen, dass das ein wichtiger Prozess ist, betont der Forscher.
Früher habe man gedacht, dass alle Probleme gelöst wären, wenn man einfach ein besseres Atomkraftwerk oder das perfekte Energiesystem aufstellt, erläutert Sovacool. "Aber so wie wir in einer Welt mit reichlich Nahrung immer noch Hungersnöte haben, haben wir in einer Welt mit reichlich Energiequellen immer noch Energieunsicherheit und -gefährdung." Und deshalb glaube er, dass eine von oben aufgesetzte "top-down"-Lösung nicht funktioniere. Man brauche jeden einzelnen Menschen, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. "Menschen treffen Entscheidungen und konsumieren Produkte. 72 Prozent der globalen CO2-Emissionen hängen mit den Verbrauchern zusammen." Unsere Entscheidungen darüber, was wir essen, wo wir leben und wie wir reisen, machen also einen erheblichen Anteil aus, der unter der Kontrolle jedes Einzelnen liege, erläutert der Forscher. Deshalb müsse die Klimapolitik auch die Menschen in den Fokus nehmen. Sovacool sagt also: Der Verweis auf Politik, die Industrie – die "big player" - ist nicht zulässig, es geht auch um den Konsum des Individuums. Das zeigten auch Untersuchungen seines Teams in europäischen Haushalten in Deutschland, Norwegen, Schweden und Frankreich. Das Ergebnis: Wenn die Haushalte nur drei Dinge ändern würden, könnten sie ihre persönlichen CO2-Emissionen um 80 Prozent senken. Die zentralen drei Dinge sind Sovacool zufolge die Ernährung, die Mobilitäts- und Reisegewohnheiten und das Heizen. Und er betont: Ein Verzicht aufs Auto sei dafür noch nicht einmal nötig!
Aber wie bekommt man die Menschen dazu, sich freiwillig am Transformationsprozess zu beteiligen? Immerhin stellt der US-Forscher in seinem Vortrag selbst fest: Die Debatte um erneuerbare Energien etwa, die sei mittlerweile komplett "bananas" – verrückt also. Die Menschen lehnten die Technologien teilweise ohne jede rationale Begründung ab. Wie also Menschen mitnehmen, die gegen jedes Windrad auf die Barrikaden gehen? Es ist schwierig, sagt der Forscher. "Denn viele dieser Ansichten sind fest verwurzelt und ein Großteil der Landschaft, erscheint uns natürlich, obwohl sie voller früherer Technologien ist - Übertragungsnetze, Straßen und Brücken. Wenn man in eine Welt hineingeboren wird, in der es bereits Kohlekraftwerke gibt, ist das normal. Sie sind seit der Geburt da. Und doch würden die Menschen heute, wenn man versuchen würde, ein neues Kohlekraftwerk zu bauen, dagegen sein, weil es neu und störend ist." Hinzu kommt zum Beispiel bei Windrädern, dass sie überall zu sehen seien. Ein einzelnes Kraftwerk dagegen stehe an einem Ort und für die meisten Menschen sei es damit aus dem Auge, aus dem Sinn. "Ich denke, es geht sowohl darum, die Gemeinschaft einzubeziehen, als auch einen Schritt weiterzugehen und sicherzustellen, dass die Gemeinschaft davon profitiert", meint Sovacool. Wenn es eine Gewinnbeteiligung gibt oder Gelder zurück in die Gemeinde fließen für Schulen, Krankenhäuser oder Sportvereine, dann sei die Akzeptanz höher. Deshalb gebe es in den Vereinigten Staaten seit neuestem die "Justice 40"-Regelung. Die besagt, dass künftig 40 Prozent der Einnahmen aus Projekten im Bereich der Erneuerbaren Energien in benachteiligte Gemeinden fließen müssen. Die Regelung sei noch sehr neu, es sehe aber so aus, als ob sie gut funktioniere.
Forscher Sovacool verweist immer wieder auf den Begriff der "just transition" – des gerechten oder fairen Übergangs. Dabei gehe es darum, dass es beim Transformationsprozess keine Verlierer geben dürfe. "Wie man das handhabt, dafür gibt es viele wirklich gute Werkzeuge. Es gibt Arbeitsgruppen und Dialoge für einen gerechten Übergang. Schottland hat eine Kommission, Südafrika hat Regelungen, die bis auf die Ebene des Präsidenten und des Premierministers angesiedelt sind." Auch der Fonds für den Kohleausstieg der Europäischen Union sei so ein Werkzeug für eine "just transition". Die kurze Antwort sei, so der Forscher, dass man den Menschen zeigen müsse, dass die grüne Transformation ihnen enorme Vorteile bringe – und dass die Kosten enorm wären, wenn man es jetzt versäumt. "Wenn man nur zwei externe Effekte monetarisiert, Luftverschmutzung und Kraftstoffeinsparungen, zahlt sich die industrielle Dekarbonisierung bereits selbst aus", erläutert Sovacool. Doch die Leute denken, die Transformation sei ein Kostenfaktor, obwohl es in Wirklichkeit genau umgekehrt sei – das Kosten-Nutzen-Verhältnis sei überaus positiv.
"The effects of industrial decarbonization are not just a free lunch, it's the free lunch you get paid to eat." (Prof. Benjamin Sovacool, Boston University)
"Wir haben das nur wirklich schlecht kommuniziert. Wir sagen nicht, es geht um das Leben von Kindern, es geht um Sicherheit, es geht um Wasser, es geht um Lebensräume, es geht um Widerstandsfähigkeit und es geht um Gemeinschaft." Der Forscher schlägt deshalb vor: Ändern wir die Erzählung in eine, die viel menschlicher und in die Zukunft gerichtet ist. Immerhin blieben nur noch ein oder zwei Jahrzehnte, um die Klimakrise zu lösen.
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