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Grünes Windradmodell mit kleinen grünen Blättern auf Rotor vor grünem Hintergrund
Ausgabe #135
vom Freitag, 5. April 2024

Viel Wind um wenig? Über das Aus vom „Windkraft-Aus“ 

Junger Mann mit schwarzer Kappe, Bart und runder Brille
von Florian Zinner

Hallöchen miteinander.

Wie viele bunte Eier mir der Feldhase dieses Jahr ins Nest gelegt hat, ist für mich kein unwesentlicher Sachverhalt, sondern Basis meiner nachösterlichen Freudenkurve. Ich vermute aber, dass Sie das anders sehen und an diesen Details kein Interesse haben.

Nachrichtenwert-Theorie nennt man das in kommunikationswissenschaftlichen Kreisen. Die wird von so Faktoren wie räumlicher Nähe, Zeitpunkt und Überraschungseffekt bestimmt. Und hätte uns diese Woche eigentlich veranlassen müssen, nicht nur meine Ostergaben, sondern noch ein weiteres Thema als nicht berichtenswerte Nicht-Meldung auszusparen: Eine Entscheidung des französischen Verwaltungsgerichts zu Lärmmessprotokollen im Windkraftanlagenbau. Das klingt berechtigerweise nach Staubansatz und unter ferner liefen.

Nun ist diese Meldung in den gar nicht mal so tiefen Untiefen des Internets auf Nährboden gestoßen, wo sie ein zünftiges Eigenleben entwickelt hat, das sämtliche französische Windkraftanlagen infrage stellt. Selbstverständlich mit dem entsprechenden Fingerzeig nach Deutschland. Und schließlich haben – kurz vor Redaktionsschluss – auch etablierte Medien von der Sache, nun, wie soll man sagen, Wind bekommen, was unsere Wahrnehmung bestätigt, dass wir einmal kurz darüber sprechen sollten.

Also, ran an den Speck. Oder besser gesagt: le lard de porc.

#️⃣ Zahl der Woche

120

… Kilometer pro Stunde auf deutschen Autobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 innerorts hätte in Deutschland keine breite Akzeptanz, sagt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) der Funke Mediengruppe und erteilte der Klimaschutzmaßnahme abermals eine Absage. Umfrage von ADAC und Umweltbundesamt (UBA) bescheinigen allerdings eine wachsende und überwiegende Befürwortung in der deutschen Bevölkerung, zumindest was ein Tempolimit auf Autobahnen betrifft. Das UBA hat zudem im vergangenen Jahr errechnet, dass Tempo 120 die Treibhausgasemissionen um rund 6,7 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten senken könnte.

Illegal, ganz egal oder vollkommen normal: Was ist los bei der Windkraft in Frankreich?

Die Geschichte beginnt dort, wo sie derzeit mehr oder weniger auch endet: Auf der etwas improvisierten Wordpress-Seite der FED. Das steht für Fédération Environnement Durable, Föderation für nachhaltige Umwelt, der zeitgeistliche Name einer französischen Umweltorganisation. Wobei Umweltorganisation ein Euphemismus ist, es scheint hier vor allem um die Verhinderung von Windkraftanlagen zu gehen, unter dem Deckmantel des Schutzes von Mensch und Natur. Zumindest hat der Vorsitzende Jean-Louis Butré bereits zwei Anti-Windkraft-Bücher verfasst.

Auf dieser Website ist nun zu lesen: „Am 8. März 2024 erließ der Staatsrat [französisches Verwaltungsgericht] eine historische Entscheidung, indem er die Genehmigungen für Landwindkraftanlagen und die Regeln für die Erneuerung von Parks illegal machte.“ Das klingt, mit Verlaub, nach einer Hiobsbotschaft mit historischer Tragweite für die Energiewende, die sich auch am französischen Energiemarkt zeigen dürfte. Fragen wir nach bei Norbert Allnoch. Norbert Allnoch hat auf dem Gebiet der Windkraft promoviert, beobachtet die Windenergiemärkte seit den Achtzigern (!) und ist Gründer des Internationalen Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR). „Wir sehen keine Auffälligkeiten im französischen Windenergiemarkt“, sagt Allnoch. Das bescheinige auch eine Stichprobe bei einem Unternehmen, das Windkraftanlagen in Frankreich plant: Es gebe keine Behinderung der Arbeit und Genehmigungsverfahren würden nicht in die Länge gezogen.

Das deckt sich, im Gegensatz zum Wortlaut der FED, mit der Berichterstattung zum Thema. Hi und da eine Notiz, aber eben nur ein ganz laues Lüftchen der Provence statt Sturm à la Bretagne. 

Auch in Deutschland hat es die Urteilsverkündung bis knapp vor Redaktionsschluss dieses Newsletters in den etablierten Massenmedien nicht über den Wahrnehmungshorizont geschafft, erfreut sich aber in sogenannten „Alternativmedien“ schon seit einiger Zeit größerer Beliebtheit. Das sind Angebote im Netz, aber auch am Kiosk, die für sich einen strengen Blick auf die Wahrhaftigkeit gesellschaftspolitischer Gemengelagen reklamieren, in Wirklichkeit aber häufiger durch Falschmeldungen aufgefallen sind.

Deshalb sind dort dieser Tage Sätze zu lesen wie „Sämtliche Erlasse über Lärmschutzmessungen für Onshore-Windparks sind gesetzwidrig“ und „Der französische Staatsrat hat dem Ausbau der Windkraft vorerst den Wind aus den Segeln genommen.“ Solche Angebote sind beliebt. Und weil das viele Menschen lesen, wird das Lüftchen um die französische Windkraft plötzlich dann doch relevant. Das zeigen zumindest die Kommentare durch Nutzende in unserem Onlineangebot.
F
Windkraft und Frankreich – hüstel?

Schauen wir erstmal auf das, was ist. Und das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ausbaufähig. So lag im vergangenen Jahr die Nettostromerzeugung aus Windkraft in Frankreich bei nur zehn Prozent, ein Wert, den wir in Deutschland vor zehn Jahren bereits überschritten haben. Hierzulande sind wir bei mittlerweile vierzig Prozent angekommen, was Wind zum wichtigsten Energieträger der Republik macht. In Frankreich ist es hingegen der gespaltene Atomkern. Über 67 Prozent der erzeugten Energie kamen 2023 aus Kernreaktoren. Wohlgemerkt in einem Jahr, in dem Hitze und Trockenheit dieser Form der Stromerzeugung zu schaffen machten – 2015 lag der Anteil noch bei 78 Prozent. Viele der französischen AKWs sind alt, Neubauten hingegen teuer und langwierige Unterfangen.

Auch deshalb wäre ein „historisches Windkrafturteil“ alles andere als günstig. Beim Ausbau der Windkraft hat Frankreich mittlerweile ein mit Deutschland vergleichbares Tempo erreicht. Das zeigt eine Datenanalyse des geschätzten und um keine Rechenoperation verlegenen Kollegen Robert Rönsch, die Sie kommenden Woche bei MDR WISSEN für ganz Europa einsehen können. Die Grande Nation scheint also inzwischen der Auffassung zu sein, ein Ausbau der Windenergie stünde ihr gut zu Gesicht. Was freilich nicht alle Menschen zwischen Dünkirchen und Saint-Tropez so sehen.

Zum Beispiel neben der FED noch 15 weitere französische Anti-Windkraft-Verbände, die vorgaben, vor dem französischen Verwaltungsgericht für die Interessen der Menschen hinsichtlich Lärmschutz bei Windkraftanlagen einzutreten. Dabei geht es nicht nur um Fragen der tatsächlich hörbaren Lärmerzeugung, sondern auch um durch Anti-Windkraft-Gruppen instrumentalisierten Infraschall. Diese unterhalb der menschlichen Hörfähigkeit liegenden Frequenzen werden zwar auch von modernen Windkraftanlagen in geringer Menge abgegeben, sind aber schon innerhalb der gesetzlich festgelegten Abstände der TA Lärm nicht mehr messbar. Autos und Flugzeuge sondern deutlich mehr Infraschall ab.

Tatsächlich beanstandet das französische Verwaltungsgericht sogenannte Lärmmessprotokolle in ihren neuen Fassungen von 2021, 2022 und 2023. Solche Protokolle sind im Grunde eine Standardisierung der Lärmmessverfahren beim Aufbau von Windkraftanlagen. Eine wichtige Sache und eine, die besser werden sollte, so das Ansinnen dieser neuen Fassungen. Zum Beispiel durch genauere Vorgaben zu den verwendeten Messgeräten. „Es geht hier nur um die Art und Weise, wie dieser Schall gemessen wird, damit immer alle Ingenieurbüros, die diese Messungen durchführen, gleiche Standards verwenden“, betont Norbert Allnoch. Und er betont: Die gesetzlichen Grenzwerte standen gar nicht zur Debatte.

Kurzer Exkurs zur Sache: Die Differenz zwischen dem Umgebungslärm ohne Windkraftanlagen und dem Umgebungslärm mit einem in Betrieb befindlichen Windpark darf in Frankreich tagsüber plus fünf Dezibel und nachts plus drei Dezibel nicht überschreiten. In Deutschland ist hingegen die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) maßgeblich.

Was hatte das Gericht nun zu beanstanden?

Wenn also alles paletti ist, warum hat das Verwaltungsgericht die neuen Lärmmessprotokolle in ihren neuen Fassungen für nichtig erklärt? Die verbesserten Protokolle beziehungsweise Vorgaben zu den Messverfahren waren vor der Genehmigung nicht Gegenstand einer Anhörung der Öffentlichkeit, erklärt Norbert Allnoch, der sich für uns den Sachverhalt noch mal angesehen hat. „Und dieser Formfehler hat dazu geführt, dass eine Anpassung dieser Vorlage eben rechtsunwirksam ist.“

Aber ist rechtsunwirksam gleich illegal? Nö. Das Urteil habe „erstmal überhaupt keine wirkliche Tragweite. Die alten Vorgaben, wie jetzt die Lärmmessung erfolgen sollen, sind weiterhin gültig.“ Also das alte Lärmmessprotokoll von 2011. Und das ist die wirklich kleine, aber entscheidende Information, die von einigen Seiten ausgespart wurde: Eine Rechtslücke existiert nicht und Windparks sind nicht illegal.

Zu dieser Erkenntnis kommt auch das Nachrichtenportal des kommerziellen und größten französischen Fernsehsenders TF1, und zitiert vorsichtshalber die Erkenntnisse einer französischen Anwaltskanzlei und den Direktor für Strategie beim Verband France Renouvelables, der abermals betont, dass bestehende und geplante Windparks nicht infrage stünden.

Welche Folgen hat das Urteil also wirklich? Man werde den Formfehler korrigieren und die neuen Messprotokolle auf den Weg bringen, sagt Norbert Allnoch: „Es wird jetzt wahrscheinlich ein neues Verfahren geben, wo die Öffentlichkeit eben nicht nur bei den Entwürfen berücksichtigt wird, sondern eben auch bei der Entscheidung.“

Fertig aus. Echt jetzt.

Fast. Die Frage ist nur noch, welche Rolle Windräder auf dem französischen Land überhaupt in Zukunft einnehmen. Denn Windparks auf See machen sich in Frankreich mit seinen langen Küsten gut. Präsident Emmanuel Macron hat 2022 angekündigt, bis zum Jahr 2050 rund fünfzig Offshore-Windparks mit vierzig Gigawatt Leistung zu schaffen. Und draußen auf dem Meer, da wohnt ja meistens niemand direkt daneben.

🗓 Klimatermine

Donnerstag, 11.4. – Zwenkau

Bildungstag im Kulturkino: Wie können wir dafür sorgen, dass Wasser künftig uns Menschen, aber auch Pflanzen und Tieren sowie der Wirtschaft ausreichend und in guter Qualität zur Verfügung steht? Infos bei der Heinrich Böll Stiftung

Mittwoch, 17.4. – Borna

Der Nabu lädt zum Workshop „Naturkosmetik selber machen“. Auf dem Plan stehen Hautcremes, Deos und Haarpflegeprodukte. Infos

Bis 21.4. – Online

Im Umfrageprojekt Lebenswert möchte der MDR wissen, wo in Mitteldeutschland welche Lebensqualität herrscht. Etwa die Frage, wo Menschen lieber mit dem ÖPNV zur Arbeit pendeln würden statt mit dem Auto. Zur Umfrage hier und als Spielvariante hier

 

📰 Klimaforschung und Menschheit

Berufungsverfahren beginnt: Mineralöl-Konzern Shell erneut vor Gericht

In Den Haag ist der Mineralöl-Konzern Shell diese Woche gegen eine zunächst erfolgreiche Klimaklage in Berufung gegangen. Hintergrund ist das im Jahr 2021 von einem Haager Gericht verhängte Urteil, der Konzern müssen bis 2030 seine CO2-Emissionen um 45 Prozent gegenüber 2019 reduzieren. Geklagt hatte der niederländische Ableger von Friends Of The Earth, ein Verband von Naturschutzorganisationen, in dem auch der Deutsche BUND Mitglied ist. Shell weist das ursprüngliche Urteil zurück und sieht die Verantwortung, dem Klimawandel zu begegnen, nicht in der Justiz, sondern in der Politik, die wiederum Vorgabe für Unternehmen sei. Man sehe zudem die Notwendigkeit in der Reduktion von Emissionen und hätte entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Hintergründe hat die Tageszeitung

Pünktlichere Bahn bis Ende 2025

Die Deutsche Bahn und ihre Infrastrukturtochter InfraGo sind zuversichtlich, bis Ende 2025 vierzig Prozent des Programms „Kleine und mittlere Maßnahmen“ umzusetzen und die verbliebenen Projekte bis 2030 vollständig abzuschließen. Das vier Milliarden schwere Programm komme gut voran, so InfraGo-Chef Nagel, Fahrgäste und Güterverkehr würden unmittelbar davon profitieren. Zu den Maßnahmen zählen der Einbau von Weichen, neue Bahnsteige und zusätzliche Signale. Finanziert wird das Programm durch das Klimaschutzprogramm des Bundes und Eigenmittel der Deutschen Bahn. Der Verband „Die Güterbahnen“ kritisierte den Bericht. Geschäftsführer Wessel warf dem Unternehmen vor, die Quote bei den bis 2025 umgesetzten Maßnahmen schönzureden, außerdem würden weniger Baumaßnahmen umgesetzt als vor zwei Jahren angekündigt.

Wärmster März seit Beginn der Wetteraufzeichnungen

Es wird zur Gewöhnung: Der März 2024 war wie auch der Monat davor der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Mit 7,5 Grad in Deutschland lag er fast drei Grad über dem neuen wärmeren Mittel der Jahre 1991 bis 2020. Bezogen auf Mitteldeutschland gab es im diesjährigen März nur sehr wenige und kurze Phasen, die vergleichsweise kühl waren. Nur dreimal im Monatsverlauf lagen die Durchschnittstemperaturen für einen oder zwei Tage unter dem neuen Mittel. Interaktive Grafiken zum März 2024 haben wir hier zusammengestellt.

📻 Klima in MDR und ARD

Frau mit Brille und schulterlangen blonden Haaren

Gasnetz richtig stilllegen, sonst wird es teuer

In Kemferts Klima-Podcast geht es unter anderem um die Frage, wie hohe Kosten bei der Stilllegung nicht mehr benötigter Gasnetze vermieden werden müssen.  
Skigebiet von oben mit sehr wenig Schnee

War's das mit Skifahren in Deutschland?

Der Winter war sehr warm, viele Skigebiete mussten den Betrieb früher als geplant einstellen. Hat Wintersport in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft?
Modernes Wohngebäude

Was ist ein Passivhaus?

Warme Räume im Winter fast ohne Heizen und im Sommer schön kühl? Das geht mit einem Passivhaus. 

👋 Zum Schluss

So, wir hatten's ja schon in den Terminen, aber weil die Kolleginnen und Kollegen so nett sind und es mit Ihrer Hilfe ein spannendes Projekt werden kann: In Lebenswert möchte der MDR wissen, wie es um die Lebensqualität an Ihrem Heimatort in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen bestellt ist.

Da geht's auch ganz schnell um Klimafragen. Zum Beispiel, ob Sie sich mehr kühlendes Grün in Ihrer Nähe wünschen oder ob Sie gern zur Arbeit mit den Öffentlichen brausen würden, es aber durch die gegebenen Umstände nicht können. Mitmachen können Sie bis 21. April hier – und für alle mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne gibt's die Umfrage hier als heiteres Handyspiel.

Noch kurz zur Nachrichtenwert-Theorie vom Anfang: Die ist längst nicht immer der Weisheit letzter Schluss. So manches Mal schaffen es wichtige Meldungen nicht in die Überschriften, wie die brandaktuelle Liste der vergessenen Nachrichten 2024 zeigt. In der geht's diesmal auch um Ökologie.

Passen Sie auf sich und die Welt auf.

Herzlich
Florian Zinner